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1882-1933: Das staatswissenschaftlich-statistische Seminar

Differenzen zwischen Wagner und Schmoller

Obwohl nach außen hin das Seminar als das einheitliches Zentrum des Historismus erschien, bestand besonders zwischen Schmoller und Wagner keine Einigkeit bezüglich der Ausrichtung des Seminars. Das Klima war trotz der grundsätzlichen gemeinsamen Zielvorstellungen angespannt. Der Unterschied äußerte sich auch auf methodologischen Ebene, wobei sich Wagner oftmals von der Zuordnung zu Schmollers jüngeren historischen Schule distanzierte. Wagner verfolgte einen auf ökonomischen Kategorien beruhenden Ansatz und galt als Befürworter Statistik als Lösung besonders finanzökonomischer Probleme. Er hat selbst das neoklassische Werk Alfred Marshalls positiv für das Quarterly Journal of Economics rezensiert (Hagemann 2008). Anders als Schmoller formulierte er allgemeingültige Entwicklungsgesetze, wie das „Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit“, dass er „fortschreitenden, culturfähigen Völkern“ zusprach (Wagner 1892: 888). Wagner bezeichnete sich selbst nicht als der historischen, sondern der „sozialpolitischen Schule“ der Nationalökonomie zugehörig.

Die unterschiedliche Herangehensweisen fiel auch den Studierenden auf. Beide unterrichteten semesterweise abwechselnd die Übung der Nationalökonomie, die aber nicht wie erwünscht aufeinander aufbauten. So formulierte Schmoller in seinem Bericht für die Universitätschronik des Jahrganges 1889/90 (3 Jahre nach der Seminargründung):

„Wenn ich die Leistungen meines Berliner Seminars mit denen vergleiche, welche ich in Straßburg zusammen mit Professor Knapp hielt, bestand der Hauptunterschied darin […] dass (dort) eine einheitlichere, systematischere, gleichmäßigere Einwirkung möglich war, die durch die Gleichheit der Grundanschauung von Professor Knapp und mir gesteigert wurde“ (Friedrich-Wilhelms-Universität 1890: 68).

Schmoller beklagt darüber hinaus, dass die unterschiedlichen Lehrmethoden sich irritierend und hemmend auf die Studierenden auswirken. Im darauffolgenden Jahrgang der Chronik bestreitet Wagner in seinem Bericht diese Folgerung. Er sieht die unterschiedliche Methodik als Chance, den Studenten die Vielseitigkeit der Lehrmeinungen und Methoden näher zu bringen. Er kritisiert die zu frühe Spezialisierung in den Seminaren und spricht von dem Problem der „Verschulung“. Systematik und Gleichmäßigkeit der Seminare ist für ihn nebensächlich (Wagner 1891: 50f).

Der wesentliche Unterschied zwischen Wagner und Schmoller bestand in der Ansicht Wagners, die Staatswissenschaften von der Philosophie zu lösen und in die Rechtswissenschaften zu integrieren. Schon 1870, kurz nach Wagners aber Jahre vor Schmollers Berufung nach Berlin, diskutierten sie in einem Briefwechsel die Neugestaltung des staatswissenschaftliche Studiums. Beide waren sich grundsätzlich einig, dass eine Stärkung gefordert sei, doch beklagte Wagner als Ursache, dass die Staatswissenschaften nicht ausreichend in die juristische Ausbildung eingebunden seien, wobei Schmoller als Ursache das mangelhafte preußische Prüfungswesen anführte. (Wagner 1870: 85; Czech 2010: 279f.) Wagner bezeichnete die philosophische Fakultät abfällig als „mixtum compositum“ von Mathematik über Agrarwissenschaften und Physik bis zur Geschichte (Wagner 1870: 85). Die Einrichtung einer selbstständigen staatswissenschaftlichen Fakultät hält er ebenfalls nicht für erstrebenswert.

1877 veröffentlichte Wagner in der Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Büros eine programmatische Schrift zur Reform der Staatswissenschaften in Deutschland (Zur Statistik und zur Frage der Einrichtung des nationalökonomischen und statistischen Unterrichts an den deutschen Universitäten (Wagner 1877) Darin analysiert er die Nationalökonomie und die Statistik an 29 deutschsprachigen Universitäten über einen Zeitraum von sechs Semestern. Die drei Hauptteilgebiete der Staatswissenschaft (die theoretische Nationalökonomie, die praktische Nationalökonomie, und die Finanzwissenschaft) an den meisten Universitäten bereits vertreten und ihre Lehre ähnelt sich an allen Universitäten stark. Wagner bemängelte die geringe Beachtung der Statistik (an den zehn preußischen Universitäten sei sie nur in Berlin und Halle vertreten, und im restlichen Reich nur an vier Universitäten; eine eigene Professur gab es nur an vier Universitäten (darunter Meitzen in Berlin)). Neben der universitären Ausbildung von Studenten der verschiedensten Hauptfächer war es ihm auch ein Anliegen bereits sich im Amt befindliche höhere Staatsbeamte durch Aus- und Weiterbildungen auf den aktuellen Stand der Forschung zu bringen. (Wagner 1877: 879ff.) Wagner plädierte für die Integration der Staatswissenschaften in die Rechtswissenschaft, die zusammen eine eigene Fakultät bilden sollten, und ein systematischen Studiums der Nationalökonomie zuließen soll.

1909 kam es tatsächlich zu einer Diskussion, ob die Staatswissenschaften in die rechtswissenschaftliche Fakultät integriert werden sollte, wobei sich die Philosophen für eine Erhaltung eingesetzt hat. Dies zeigt nicht nur die Nähe zur Geisteswissenschaft, sondern auch den Einfluss Schmollers gegenüber Wagner in der Führung des Seminars. Das ausschlaggebende Argument, mit dem der Antrag abgelehnt wurde, dass nämlich die Nähe der Staatswissenschaften zu den Philosophen und Historikern nicht verloren gehen dürfe, spiegelt vor allem Schmollers Standpunkt wider (Czech 2010: 280 f.)

Laut seinem Schüler Heinrich Rubner bestand eine gewisse Nähe Wagners mit der nationalökonomischen Lehre der Jesuiten. Zu dieser Zeit waren konfessionelle Spannungen gegenüber Jesuiten ausgeprägt, wodurch seine unverschleierten Äußerungen bei seinen Hörern Proteste ausgelöst haben sollen. Gerne habe er von ihren Bischöfen entsandte Geistliche zum Studium der Nationalökonomie in seinem Seminar aufgenommen (Wagner 1870: 85). Schmoller teilte diese Sympathie nicht.