Einleitung  1810-1882  1882-1933  1933-1945  1946-1989  Ab 1990  Professorenübersicht  Veranstaltungsdatenbank  Literatur


1945-1989: Die wirtschaftswissenschaftliche Sektion zur Zeit der DDR

Entnazifizierung

Mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 9. Mai 1945 endeten offiziell die Kämpfe gegen die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges. Studenten und Mitarbeiter der Universität fanden sich in Trümmern wieder. Noch am 3. Februar 1945 wurde das Gebäude der Wirtschaftshochschule ein zweites Mal durch einen Fliegerangriff getroffen. 140 Anwesende verloren dabei ihr Leben.

Noch während der Kampfhandlungen und noch in Abwesenheit einer neuen Verwaltung berief der akademische Senat der Wirtschaftshochschule Bruno Rogowsky zum neuen Rektor. Rogowsky war bis 1933 Rektor der Handelshochschule Königsberg, bevor er von den Nationalsozialisten entlassen wurde. Am 16. Juli wurde die schon im Februar vereinbarte Teilung Berlins in Sektoren umgesetzt. Hierauf wurde am 27. Juli die deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung DVV gegründet, die das Bildungssystem in der sowjetischen Zone reformieren sollte. Primäre Aufgabe des DVV war die Entnazifizierung, also Entlassung ehemaliger nationalsozialistischer Professoren, und Einsetzung von neuen, der Sowjetunion loyalen Professoren. Die Entnazifizierung wurde von den Zuständigen der sowjetischen Militäradministration geleitet: Generalleutnant Pjotr Wassiljewitsch Solotuchin, Leiter der Abteilung für Volksbildung und Oberst Tjulpanow, Leiter der Propaganda- und Informations-Abteilung. Diese Phase der Entnazifizierung und Neuberufungen während der ersten 5 Nachkriegsjahre wurde später die I. Hochschulreform genannt.

Eduard Spranger, seit 1920 Professor für Philosophie und Pädagogik an der Berliner Universität, und 1945 erster amtierender Nachkriegsrektor der Berliner Universität, sammelte um sich einen Diskussionskreis antifaschistischer Wissenschaftler, vier der Universität und der Technischen Hochschule verbundenen Professoren: Theodor Brugsch, ein vom NS-Regime entpflichteter Arzt der Charite, Rudolf Meerwarth, Professor für Statistik an der Universität Leipzig und Mitglied des Internationalen Statistischen Instituts, sowie Georg Schnadel und Hans-Heinrich Franck. Dieser Kreis traf sich bereits bevor der erste Berliner Nachkriegs-Magistrat durch die sowjetische Besatzungsmacht am 19. Mai 1945 eingesetzt wurde, um die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des Lehrbetriebs zu beraten. Der Magistrat war dankbar für die Hilfe der fünf Professoren und überlies ihnen unter der Bezeichnung „Leitender Ausschuss des Amtes für Wissenschaft beim Magistrat der Stadt Berlin“, auch bekannt als „Fünferausschuss“, große Entscheidungsbefugnisse.

„Der Ausschuss beriet wöchentlich, meist bei Eduard Spranger in Dahlem. Ständige Gäste waren Mitarbeiter des DVV. Aber auch Vertreter der sowjetischen Besatzungsmacht, bis hin zum Leiter der Volksbildungsabteilung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), Pjotr W. Solotuchin, nahmen an Beratungen teil. Vor allem personelle Entscheidungen standen im Juni und Juli 1945 im Vordergrund der Ausschußberatungen. Wer wieder an der Universität bzw. an den Hochschulen zugelassen werden sollte, entschieden diese fünf Herren.“ (Nötzoldt 1996: 168)

Der Fünferausschuss verfasste den „Fragebogen zur persönlichen Überprüfung der Mitglieder des Lehrkörpers von Universität, Technischer Hochschule und Wirtschaftshochschule“. Im Falle eines tragfähigen Professors sollte dieser für ein halbes Jahr kommissarisch berufen werden, im Falle eines nicht tragfähigen Professors sollte die Streichung aus dem Lehrkörper veranlasst werden. Im Juni 1945 schreibt Rektor Spranger an die Professorenschaft:

„Alle Professoren, Dozenten und beamtete Assistenten, die an der Universität weiter tätig sein wollen, müssen mir umgehend ... zur Vorlage bei der Besatzungsbehörde ein Schriftstück ... folgenden Inhalts zuzusenden: 1) Name des Einsenders und Stellung im Lehrkörper, 2) Kurzer Lebenslauf mit Erwähnung seines Verhältnisses zu NSDAP und seiner politischen Einstellung seit 1933, 3) Charakteristik seiner bisherigen wissenschaftlichen Lebensarbeit und Lehrtätigkeit ... mit Angabe der wichtigsten Veröffentlichungen ..., 4) Angabe der Vorlesungen, Übungen, Practica, die er im nächsten Semester halten will, mit kurzer Charakteristik des Inhalts sowie der privaten Forschungstätigkeit, die er für die nächste Zeit plant. Ich setze voraus, daß die Mitglieder des Lehrkörpers bei der Wahl ihrer Themata den neuen Verhältnisse Rechnung tragen werden.“ (HU Archiv WIWI-Dekanat , Nr. 1872: 115)

Am 11.10 1946 bestätigte das Rektorat der Universität den Empfang der Personalakten der Herren Geheimrat Dr. Böhme, Dr. Carl Falck, Dr. Ernst Schellenberg, Dr. Curt Reicke, Prof. Walter le Coutre, Prof. Konrad Mellerowicz, Prof. Richard Müller-Freienfels, Prof. Dr. Edwin Fels, von der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. (Ibid.: 166) Von keinem anderen Professor der Wirtschaftswissenschaften liegt ein Antrag auf Weiterbeschäftigung vor. Von diesen Anträgen wurde der von Schellenberg, Mellerowicz (nach erster Ablehnung), und von Müller-Freienfels stattgegeben. Alle Mitglieder der NSDAP und anderer nationalsozialistischer Organisationen wurden nahezu ausnahmslos von ihren Ämtern enthoben. Das traf im März 1945 auf 85% der gesamten Professorenschaft der Universität zu. In kürzester Zeit wurde der Anteil der ehemaligen NSDAP Mitglieder auf 6% reduziert. Nicht anders an anderen Universitäten: In Jena wurden 98% der Professoren entlassen, in Leipzig sogar 100%, doch in Greifswald nur 46% (Schneider 1997: 228).

An der Wirtschaftshochschule gab es einen eigenen antifaschistischen Ausschuss. Diesem gehörten unter anderen Legationsrat Traugott Böhme, Rudolf Meerwarth, Bruno Rogowsky, und Ministerialdirektor Oswald Schneider an. Rogowsky schrieb am 24. Juli 1945 an Nicklisch, der offenbar an der Universität weiterbeschäftigt werden wollte:

„Die Wirtschafts-Hochschule macht gegenwärtig ihre schwerste Krise seit ihrer Gründung durch (...) Wir haben wochenlang in einem Ausschuß, dem außer mir noch Professor Meerwarth und Geheimrat Böhme angehörten, Gutachten über alle hier anwesenden Professoren und Lehrbeauftragten gemacht und versucht, der Hochschule die für sie wesentlichen Lehrkräfte zu erhalten. An der Universität wurde unter Vorsitz von Spranger in ähnlicher Weise gearbeitet. Am letzten Freitag sind meine Hoffnungen auf einer Wiedereröffnung der Wirtschafts-Hochschule zu 1. Oktober zuschanden geworden: man setzt alle Parteigenossen restlos ab und will nur einen sehr geringen Teil davon befristet als Einsatzarbeiter (...) zubilligen“ (HU Archiv WIWI-Dekanat, Nr. 1872).

Unter anderen musste auch der Prorektor der Wirtschaftshochschule, Erwin Fels, der erst vor Monaten zu diesem Amt berufen wurde, die Hochschule verlassen. Dies geschah gleichwohl Fels zuerkannt wurde, dass er sich gegen den Einfluss des Nationalsozialismus an der Wirtschaftshochschule eingesetzt hat: In dem Dokument zur „Politischen Überprüfung des Lehrkörpers der ehemaligen Wirtschaftshochschule Berlin“ (HU Archiv WIWI-Dekanat, Nr. 1872: 2) heißt es

„Prof. Dr. Edwin Fels 11.11.1888, seit 1937 ordentlicher Professor für Wirtschaftsgeographie an der Fakultät, war 1938-1943 Rektor der WHB, ist erst 1940 der NSDAP beigetreten, obwohl schon 1937 dazu aufgefordert. Er „... hat aber durch sein wirksames dauerndes Eingreifen verhindert, daß die Wirtschaftshochschule unter nazistischen Einfluß kam...“ (lt. Bescheinigung des Vorsitzenden der Allgemeinen Entnazifizierungskommission des Magistrats von Groß-Berlin, Hübner, vom 29.10. 1947) (HU Archiv WIWI-Dekanat, Nr. 1872)

Fels habe Rogowsky auf dessen Frage nach den Gründen für seinen Eintritt in die Partei offen erklärt, er hätte sich der Nazipartei nicht freiwillig angeschlossen, er wäre vor seiner Berufung aufgefordert worden, sich zur Partei zu melden und wäre daher auch erst im Jahr 1941 Parteimitglied geworden. Es wäre für ihn eine Existenzfrage gewesen (Ibid.: 477) Fels Antrag wurde nicht statt gegeben. Seine Stelle erhielt der Volkswirt Oswald Schneider, ehemaliger Ordinarius aus Königsberg.

Auch Konrad Mellerowicz wurde als NSDAP Mitglied zunächst entlassen, aber 1947 wieder eingestellt. Der antifaschistische Ausschuss vermerkte zu Mellerowicz: „als „aktivistische NS-Professoren“ werden genannt Stadler aus Wien und Beham aus Berlin, gegen deren Einstellung in der WHB Mellerowicz aufgetreten wäre“ (HU Archiv WIWI-Dekanat, Nr. 1872: 53). Nach der Wiedereinstellung prangerten Studenten der FDJ die Vorlesungen von Mellerowicz an. Gegen Mellerowicz sprach zudem seine Kritik der Marxistischen Auffassung der Betriebswirtschaftslehre, in der er auf die Prinzipien der Grenznutzenlehre auch im Sozialismus beharrt (siehe Schneider 1997: 223). Er verlies 1950 die Fakultät und erhielt einen Lehrstuhl an der Technischen Universität Berlin.

Die Entnazifizierung wurde in den sowjetischen Sektor mit größerer Konsequenz durchgeführt als im Westen (Steiner 2004). Die rasante West-Integration, das Wirtschaftswachstum und das wachsende Selbstbewusstsein in Westdeutschland bis hin zur Wiederbewaffnung 1955 verstärkte die Sowjetisierung und Abschottung der sowjetischen Besatzungszone – vor allem aus Angst vor einer unkontrollierten Wiedervereinigung, die Deutschland wieder zu einer Bedrohung hätte machen können. Im Westen dagegen, beteiligten sich die Vereinigten Staaten mit dem European Recovery Program (ERP) und niedrigen Reparationsforderungen am deutschen Wiederaufbau. Im Vergleich zur Sowjetunion hatten die USA das Ziel, die wirtschaftliche Basis Deutschlands wiederzubeleben. Im Westen wurde daher eine weniger strenge Entnazifizierung verfolgt als in der sowjetischen Besatzungszone.