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1945-1989: Die wirtschaftswissenschaftliche Sektion zur Zeit der DDR

Kontrolle und Freiheiten

Gemäß der Marxistischen Leitlinie musste ein grundsätzlicher Graben zwischen den Wirtschaftswissenschaften im Westen und Osten bestehen - denn kann die Wirtschaftstheorie des Klassenfeindes nichts anderes als eine Legitimation der dort herrschenden Verhältnisse sein. Darüber hinaus fürchtete man von einem zu offenen Austausch aber auch die Delegitimation des eigenen Staates, und drittens bestand die Befürchtung, dass systemnahe und strategisch wichtige Informationen in den Westen gelangen könnten. Von diesen drei Motiven bewegt wurden die Wirtschaftswissenschaften der DDR kontrolliert.

Der gesamte Kontakt mit dem Ausland wurde von dem Direktorat für internationale Beziehungen geleitet. Dieses verwaltete die Einsätze von Lehrkräften an ausländischen Universitäten sowie die Gastprofessoren an der eigenen Universität. Ebenfalls erteilte das Direktorat die Genehmigungen für die Publikationen von wissenschaftlichen Arbeiten in ausländischen Medien, sowie das Auslandsstudium (in anderen sozialistischen Staaten). Das Direktorat kontrollierte auch den gesamten Postverkehr. Jeder eingehende und ausgehende Brief musste von ihr genehmigt werden.

Der Zugang zu westlicher Literatur war stark eingeschränkt. Die Gründe dafür waren nicht nur politisch, sondern auch finanziell. Westliche Literatur war nicht in Hochschulkatalogen oder Verzeichnissen der Bibliotheken zu finden, sondern nur in internen und geschlossenen Sonderschriften. Man konnte auch versuchen über persönlichem Wege an westliche Literatur zu kommen. Sibylle Schmerbach, die seit 1970 an der Fakultät als Wirtschaftsstatistikerin tätig ist, äußerte sich hierzu: „Manche wissenschaftliche Mitarbeiter erhielten Post mit fachlicher Literatur aus dem westlichen Ausland. Wenn zum Beispiel solche Schriften im Nachgang zu internationalen Tagungen in Polen im Hause eingingen, musste man diese zur allgemeinen Nutzung an die Bibliothek des Hauses abgeben. Dies brachte immer viel Ärger mit sich.“ (persönliches Gesrpäch)

In der Universitätsbibliothek gab es einen kleinen Lesesaal, genannt den West-Lesesaal. Dort befanden sich vor allem Periodika und wenige Bücher aus dem Ausland. Der Saal hatte acht Arbeitsplätze und war für alle Kehrkräfte frei, den Studenten jedoch nur mit einer Sondergenehmigung für Seminar- oder Diplomarbeit zugänglich. In dem Raum befanden sich wirtschaftspolitische Werke sowie statistische und ökonometrische Werke (Strohe 1996: 25-27).

Im Bericht des Dekans liest man 1961: Insbesondere seit dem Mauerbau 1961 war die Beschaffung von Westliteratur sehr eingeschränkt worden, sowohl aus ideologischen wie auch aus devisenwirtschaftlichen Gründen: “... Es wurde beschlossen, an den Bezug von Literatur aus dem kapitalistischem Ausland strengste Maßstäbe anzulegen und den Bezug von privater Westliteratur sofort einzustellen. Die Diskussion im Rat der Fakultät ergab, daß der Bezug der Periodica und der Bezug der verhältnismäßig wenigen Bücher grundsätzlich deshalb notwendig ist, weil der Gegenstand wichtiger Lehrveranstaltungen die kritische Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Apologetik ist. ... Es ist aber zu bemerken, daß es sich nicht etwa um den Bezug von Lehrbüchern aus dem kapitalistischen Ausland handelt.” (Bundesarchiv 1961: 26)

Publikationen von wissenschaftlichen Texten im Westen, aber auch im eigenen Land waren stark eingeschränkt. Die umfangreichen „Korrekturrestriktionen“ erschwerte die Publikation. Auch fertiggestellte wissenschaftliche Veröffentlichungen gelangten nicht an die Öffentlichkeit insofern sie „operativ relevante Informationen“ beinhalteten. Jedoch gilt auch, dass wissenschaftliche Veröffentlichungen in der DDR für eine akademische Karriere bei weitem nicht so wichtig waren wie im Westen. Die einzige Möglichkeit im Westen zu publizieren war in Verbindung mit Weltkongressen. Kontakt mit westlichen Ökonomen war nahezu unmöglich. Schmerbach hierzu:

„Für die „normalen“ Mitarbeiter sind Kontakte zum westlichen Ausland nicht möglich gewesen. Weder wissenschaftliche noch persönliche Kontakte durften gepflegt werden. Falls ein solcher Kontakt bestand, musste dieser umgehend gemeldet werden. Allerdings gab es zunehmende Bemühungen seitens der DDR, solche Kontakte dennoch zu pflegen und die DDR dadurch in einem weltoffenen Licht darzustellen. An diesem Prozess waren als vertrauenswürdig anerkannte Politiker, Ökonomen und auch Wissenschaftler beteiligt. Diese wurden in den Westen geschickt, um dort die DDR als eine wichtige und entwickelte Industrienation zu repräsentieren, die unter anderem auch die Wissenschaft fördert.“ (persönliches Gespräch)

Auslandsreisen in den Westen waren nur dann erlaubt, wenn die politische Zuverlässigkeit des Gesandten erwiesen war. Diese Zuverlässigkeit wurde von dem zuständigen Kaderleiter bemessen. Zu den Professoren, die als Reisekader der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät bestätigt waren, gehörte zum Beispiel Klaus Kolloch, Professor am Lehrstuhl für Internationale Finanzen. Im Institut für Statistik war als Reisekader Professor Otto tätig. Die Auslandsbesuche von Reisekadern wurden den anderen Kollegen nicht bekannt gegeben. Andere wissenschaftliche Mitarbeiter, die nicht in der Partei waren oder nicht als vertrauenswürdig genug erschienen, durften auch dann nicht reisen, wenn es eine Einladung aus dem Westen zu Tagungen oder Konferenzen gab.

Die Kontrolle der Wissenschaft erfolgte über offizielle und inoffizielle Wege, den später sogenannten „inoffiziellen Mitarbeitern“, die mit dem Ministerium für Sicherheit kooperierten. Im Jahre 1992 wurde untersucht, wie viele Professoren und Dozenten mit dem Ministerium für Sicherheit zusammenarbeiteten und die Ergebnisse zeigten, dass es an der Fakultät mehr als 10 der ungefähr 200 tätigen Lehrenden waren. Wer von den Kollegen als Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes tätig war wurde nicht offen angesprochen. Verdacht Geheimhaltung, und Verschwiegenheit waren im wissenschaftlichen Alltag nicht unbekannt. Die genannten Kommunikationskontrollen führten zu einer inneren Hierarchie unter den Angestellten und zur Zerstreuung von bestehenden oder entstehenden wissenschaftlicher Netzwerken. In den Jahren 1988-1989 lockerten sich die Anordnungen für eine mögliche Einreise der wissenschaftlichen Mitarbeiter von Ost-Berlin nach West-Berlin. Da diese „Auslandsreisen“ jedoch devisenlos stattfinden musste, war es unmöglich Literatur mit in den Osten zu bringen.

Da die Fakultät unter den vielen wirtschaftswissenschaftlichen Institutionen Berlins die wenigsten direkten Verbindungen zur Politik hatte, war der politische Wille nicht überall und immer zu spüren. Wenn auch die Sektion traditionell die „rote Fakultät“ genannt wurde, „herrschte bei uns ein relativ liberales Klima“, erinnerte sich Schmerbach (persönliches Gespräch). So gab es an der Sektion bis zur Wende Wissenschaftler, die keine Parteimitglieder waren. Innerhalb eines bestimmten Rahmens entwickelte sich sogar, auch unter dem noch anhaltenden Eindruck der Gründerfigur Jürgen Kuczynski, ein gewisser Intellektualismus. Jedoch ging diese Freiheit auch auf Kosten eines begrenzten Informationsflusses, der es verhinderte, dass sich das intellektuelle Potential frei entfalten konnte.

Im Laufe der 80er Jahre entwickelte sich auch aufgrund der verschlechterten wirtschaftlichen Lage, und trotz der harten Hand Honeckers, ein differenziertes Spektrum wissenschaftlicher Meinungen. An der Sektion bildete sich besonders in drei Fachrichtungen, namentlich in den methodisch verankerten Fächern, in der politischen Ökonomie des Kapitalismus und in den Finanzwissenschaften, aus jeweils unterschiedlichen Ausgangspunkten differenzierte Einschätzungen der wirtschaftspolitischen Lage. Dies bedeutete keine Ablehnung des sozialistischen Staates, jedoch die Anerkennung der Problemlage, und Entwicklung neuer Perspektiven.

Die politische Ökonomie des Sozialismus und die Politische Ökonomie des Kapitalismus unterschieden sich selbst in den 80er Jahren immer noch voneinander, wie sich Dieter Klein erinnerte, der 1965 Naumanns Nachfolger wurde (persönliches Gespräch). Die Wissenschaftler der politischen Ökonomie des Sozialismus waren „wenig schöpferisch“ und „ohne großen Innovationsschub“. Sie beschäftigten sich systemkonform mit der Bedürfnisbefriedigung, der sozialistischen ökonomischen Integration und den anderen vorgegebenen Forschungsgebieten Honeckers Programm. Die Politische Ökonomie des Kapitalismus veröffentlichte hingegen in den 70er und 80er Jahren mehrere innovative Forschungsprojekte. Dieter Klein war als Professor für die Politische Ökonomie des Kapitalismus und später als Direktor des Instituts für politische Ökonomie ein wichtiger Akteur in diesen Forschungsarbeiten. Das Buch „Ein friedensfähiger Kapitalismus“ (Klein 1988) war das Ergebnis einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem westlichen System, und präsentierte die Möglichkeit eines diplomatischen Dialogs. Die Schlussfolgerungen des Buches wurden von der Parteihochschule kritisiert, fanden aber, so Klein, schließlich ihre Legitimierung als 1987 die SED-SPD Gespräche stattfanden. Nachdem auch im „zentralen Forschungsplan der DDR 1986-1990“ keine Richtungsänderung eingeschlagen wurde, erkannten immer mehr Sektionsmitglieder den Ernst der Lage, und dachten über Reformmöglichkeiten nach. Für den Fünfjahresplans 1986 forderte Wissenschaftler das Politbüro auf, ungelöste Probleme und Widersprüche anzugehen.

Aus Sicht der Partei bestand folgendes Dilemma im Verhältnis zur Wissenschaft: Um ihre wirtschaftspolitische Aufgabe erfüllen zu können, musste man den Wissenschaftlern erlauben, sich mit deren Realität auseinander zu setzen, was wiederum zur Verbreitung unerwünschter Informationen, und zu einer höheren Anzahl kritischer Stimmen führte. Aus Sicht der Wirtschaftswissenschaftler der Sektion bestand eine Wahl zwischen Konformismus und Kritik. Je höher die wissenschaftliche Anerkennung war, desto schwerer dieser Balanceakt. Die Berliner Fakultät besaß keine ausgesprochene Sonderstellung, verschaffte sich aber eine gewisse selbständige Identität und versank nicht ausschließlich in Konformität. Einige fügten sich, andere nutzten ihr Wissen aus, um die Grenzen der wissenschaftlichen Freiheit zu verschieben. Manche Ökonomen der Sektion, so Schmerbach, haben sich „trotz besserer Einsicht“ nicht gegen das System gewandt. Sie haben „nicht immer die Vorreiterrolle (angenommen), obwohl sie es intellektuell konnten“ (persönliches Gespräch).

Die ehemalige Universitätsbibliothek (heute das
Kunsthistorische Institut), Aufnahme von 1996
Quelle: Aya Soika: Das Kunsthistorische Institut
– die ehemalige Universitätsbibliothek
http://edoc.hu-berlin.de/buecher/arthistory/
soika-aya/HTML/