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1989-2012: die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät heute

Die zwei Seiten des Gründungsdekans Wilhelm Krelle

Wilhelm Ernst Krelle, 1916 in Magdeburg geboren, habilitierte an der Universität Heidelberg und forschte 1953 und 1954 in den USA an der Harvard University und Chicago State University. Im Jahr 1956 wurde Krelle als außerordentlicher Professor an die Universität St. Gallen berufen, bis er 1958 ordentlicher Professor an der Universität Bonn wurde. 1975 erhielt er das Bundesverdienstkreuz und insgesamt sechs Ehrendoktorwürden von den Universitäten St. Gallen, Wien, Karlsruhe, Münster, Mannheim sowie als letztes 1994 von der Humboldt-Universität. Außerdem war Krelle Mitglied der Sozialkammer der Evangelischen Kirche Deutschlands und im wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums, dem er bis kurz vor seinem Tode am 23.06.2004 im Alter von 88 Jahren angehörte (Bayerische Akademie der Wissenschaften 2005: 315ff.). Im „Ökonomenlexikon“ der DDR wurde er als „Bürgerlicher Ökonom der BRD“ aufgefasst, „der auf den Gebieten der Preis-, Verteilungs- und Einkommenstheorie maßgeblichen Anteil an der Entwicklung des ökonomischen Denkens in der BRD [hatte]“ (Krause 1989: 272). Krelle gilt in der Tat als eine Schlüsselfigur der Mathematisierung, und damit „Amerikanisierung“ der westdeutschen Wirtschaftstheorie.

Nach abgeschlossener Leitung der Berufungs- und Strukturkommission kam es 1996 zu einer öffentlichen Debatte zu Krelles Vergangenheit zur Zeit des Nationalsozialismus. Bekannt wurde, dass er nicht nur als Offizier der Wehrmacht an Feldzügen in Griechenland und Afrika beteiligt war, er stellte sich auch an der Westfront als Kommandeur einer Einheit den alliierten Truppen entgegen. Durch Nachforschungen von Studierenden in Militärarchiven wurde bekannt, dass Krelle ab August 1944 in der Waffen-SS kämpfte und ab 1945 sogar 1. Generalstabsoffizier der SS-Panzergrenadierdivision „Götz von Berlichingen“ und Sturmbannführer war. Hierauf beauftragte der akademische Senat 1996 einen Ausschuss, Kriegsdokumente zu sichtigen und ein Gutachten von der Bundeswehruniversität Hamburg in die Wege zu leiten. Das Ergebnis war: „SS-Kämpfer ja, SS-Mitglied nein. Abkommandierung zur Waffen-SS ja, freiwillige Versetzung dorthin nein. SS-Sturmbannführer ja – aber nur auf dem Papier“ (Berliner Zeitung, 13.05.04). Im Jahr 2004 wurden neue Dokumente entdeckt, die Krelle eine größere Verstrickung in SS-Tätigkeiten vorwerfen sollten (Berliner Zeitung, 13.05.04), diese wurden jedoch bis heute noch nicht überprüft.

Als Begründung für sein Vorgehen im Zweiten Weltkrieg gab Krelle an, es wäre für ihn „ehrenrührig […], eine Kommandierung abzulehnen“ (Berliner Zeitung, 13.05.04). Er verwies darüberhinaus auf seinen Glauben, dass „dies alles Teil von Gottes Willen“ gewesen sei (Berliner Zeitung, 13.05.04). Wie konnte es nun geschehen, dass ein ehemaliger „SS-Kämpfer“ als Gründungsdekan darüber entschied, welche Wissenschaftler aufgrund ihrer Vergangenheit für die Fakultät geeignet sind und welche nicht? Wäre man nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls so streng wie die „Gauck-Behörde“ nach der Wende vorgegangen, wäre Krelle eine wissenschaftliche Karriere an einer deutschen Hochschule unmöglich gewesen. Sein wichtigstes Anliegen in der Kommission war, die Fakultät aus der „roten Ecke“ herauszuholen. Dass gerade ein ehemaliger SS-Sturmbannführer diese Aufgabe durchzuführen hatte, traf die Verlierer dieser Reform, die sich gewiss noch an die Anliegen der Reform 1945 erinnern konnten, schwer. Ein Forscher, welcher der Ansicht war, „dass die ‚reine ökonomische Theorie‘ einer Ergänzung durch moralische und christliche Prinzipien bedürfe“, blieb nicht frei von seinen eigenen moralischen Verwicklungen (Krause, Graupner, Sieber 1989: 274).

In Verteidigung der Tätigkeit der Berufungs- und Strukturkommission schrieb Krelle am 24.6.1996 an die Mitglieder der Kommission einen kurzen Bericht aller Tätigkeiten und schloss mit folgenden Bemerkungen:

„Die SBK hat niemals einen Bewerber nach seiner politischen Überzeugung oder nach seiner Parteimitgliedschaft zur DDR-Zeit befragt. (...) Allerdings hat es die SBK abgelehnt, einen speziellen Lehrstuhl für Marxismus/Leninismus zu schaffen, was wohl einige der früheren Professoren der Humboldt-Universität gerne gesehen hätten. (...) Die Härten, die diese Umstellung für viele alte Angehörige der Humboldt-Universität gebracht hat, war angesichts der Halbierung der Stellen und angesichts der fehlenden fachlichen Qualifikationen nachher frühere Angehöriger der Humboldt-Universität unvermeidlich. Mitglieder der SBK haben im persönlichen Einsatz versucht, diese Härten zu mildern. Das ging aber nicht in jedem Fall.“

Wilhelm Krelle, 1994
Photo: Johannes Kuhn
Quelle: commons.wikimedia.org