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1989-2012: die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät heute

Mauerfall

Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, war am nächsten Tag kaum ein Student an der Universität anzutreffen. Die Professoren und Mitarbeiter dagegen kamen zusammen und berieten in dieser neuen Situation, in der sich, wie sich Klaus Kolloch erinnerte, „Freude, Hoffnung, aber auch vorausgehende Angst“ abwechselten, über den Fortgang der Ereignisse (2001: 296). Mit dem Ende der DDR sollte sich für die Aufgaben der Wirtschaftswissenschaften wie der Universität Grundlegendes ändern. Für Kolloch wie für viele andere begann mit diesem Tag einer seiner „schwierigsten Lebensabschnitte“ (Kolloch 2001: 296).

War man bisher von der westlichen Ökonomie abgetrennt, so war abzusehen, dass man bald mit ihr im Vergleich und Wettbewerb stehen würde. So bestand unter den Professoren Übereinstimmung darüber, dass eine Anpassung der Sektion an westliche Systemstrukturen unumgänglich sei (Schmerbach, Günther 2010: 401). Die Sektionsmitglieder waren sich aber auch einig, dass die bestehende Struktureinheit mit 33 Professoren erhalten werden sollte, und dass man durchaus in der Lage war, die Lehre und die Forschung aus eigener Kraft zu reformieren, ohne dass ihre besondere Vielfalt verloren ginge. Ähnliche Bestrebungen der Selbstreform wurden auch auf Universitätsebene vom Rektor Heinrich Fink vorangetrieben (Originaltext). Neben der Betriebswirtschaftslehre und der Volkswirtschaftslehre wurden vor den Wendejahren Veranstaltungen zur Mathematik, Statistik, Wirtschaftsinformatik, Demografie, Ökologie, Wirtschaftsgeschichte, Wirtschaftspädagogik und Wirtschaftsrecht angeboten (Schmerbach, Günther 2010: 401).

Um diese Ziele zu erreichen, entwickelte die Sektionsleitung Anfang 1990 ein Leistungsprofil. Hierfür wurden Strukturen anderer westlicher Universitäten zum Vergleich herangezogen. Das Profil legte den Schwerpunkt auf die zentrale Rolle Berlins für die europäische Integration von Ost und West. Man wollte den „Anforderungen Berlins als einer zentraleuropäischen Drehscheibe für die Wirtschaftsintegration unter dem gemeinsamen europäischen Dach“ (Schmerbach, Günther 2010: 402) gerecht werden. Am 8. Februar 1990 beschloss die Sektion nach Absprache mit dem Rektor der Universität, Heinrich Fink, das Leistungsprofil als Rahmen für zukünftige Veränderungen.

Das neue Profil räumte der westlichen Wirtschaftstheorie eine wichtige Rolle ein. Schon im Sommersemester 1990 wurden die Kernfächer Mikro- und Makroökonomie mit westlichen Lehrbüchern unterrichtet. Ebenfalls dem westdeutschen Modell folgend sollten an der Fakultät vier Studiengänge angeboten werden: Diplomvolkswirt, Diplomkaufmann, Diplomhandelslehrer und Wirtschaftsinformatiker. Ein Ziel der Ausbildung war, die Fähigkeit der Studenten zu stärken, „theoretisch fundiertes Wissen und globales Denken mit hoher Professionalität und Praxisverständnis zu verknüpfen. Des Weiteren sollte ein Doktorandenstudium für Graduierte mit dem Abschluss des Dr. rer. pol. eingeführt werden“ (Ibid.).

Schon während der Ausarbeitung des neuen Konzepts formierte sich ein Richtungsstreit (Kolloch 2001: 297). Zum einen gab es diejenigen, die sich der Leitung der Sektion anschlossen, inhaltlich neu beginnen, und sich in das Forschungs- und Ausbildungssystem der Bundesrepublik integrieren wollten; auf der anderen Seite standen Wissenschaftler vor allem aus dem Bereich der politischen Ökonomie, welche ebenfalls einen Neuanfang wollten, aber weiterhin mit einem marxistisch orientierten Grundkonzept lehren und forschen wollten. Die politischen Veränderungen führten schnell dazu, dass sich diejenigen durchsetzten konnten, welche inhaltlich den Neustart anstrebten (Schmerbach, Günther 2010: 402).

Im April 1990 wurden die ersten freien Wahlen seit Wiedereröffnung der Fakultät im Jahre 1948 durchgeführt. Gewählt wurde der Sektionsrat, der zur Aufgabe hatte, “als ein demokratisch legitimiertes Beschluss- und Arbeitsgremium zu akademischen Fragen (Berufungen, Graduierungen und Gründungen) sowie zu grundlegenden Fragen in Forschung und Lehre“ zu agieren (Schmerbach, Günther 2010: 402f.). Dieser Vorgang war von größter Bedeutung, da man sich „völlig neuer Verhältnisse“ ausgesetzt sah, wie sich Schmerbach erinnert, dass „es keine Rolle mehr spielte, ob man zur politischen Klasse gehörte (…) oder nicht“ (Schmerbach 2012, persönliches Gespräch). Im Sektionsrat waren prozentual die Hochschullehrer zu 35%, die wissenschaftlichen Mitarbeiter zu 25%, Studierende zu 30% und die technischen Mitarbeiter zu 10% vertreten (Schmerbach, Günther 2010: 402f.). Der erste frei gewählte Dekan wurde Klaus Kolloch, der in der DDR als Reise-Kader auch in westlichen Ländern lehren und forschen durfte. Als einer der wenigen ostdeutschen Wissenschaftler durfte Kolloch in den 80er Jahren unter anderem in Großbritannien, Indien und Japan unterrichten (Kolloch 2001: 318). Damit kam der ehemalige Prodekan für Forschung auch an die Spitze der Wirtschaftswissenschaften der HU, der mit seinen wertvollen Erfahrungen die internationale Ausrichtung der Sektion stärken konnte.

Mauerfall in Berlin, 11. November 1989. Photo: dpa
Quelle: Frankfurter Rundschau, 10.06.2009