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1882-1933: Das staatswissenschaftlich-statistische Seminar

Die Gründung des staatswissenschaftlich-statistischen Seminars 1886

Mit der Gründung des staatswissenschaftlich-statistischen Seminars 1886 begann die eigentliche Institutionalisierung der Wirtschaftswissenschaften in Berlin. Bis dahin bestand weder eine Studienordnung noch ein besonderes Studienfach. Im Vergleich mit anderen deutschen Universitäten befand sich die Friedrich-Wilhelms-Universität damit in einer Nachzügler-Rolle. Die Universität Tübingen errichtete bereits 1817 die erste staatswissenschaftliche Fakultät an einer deutschen Universität. 1849 wurde an der herzoglichen Gesamtuniversität in Jena ein staatswissenschaftlich-statistisches Seminar gegründet. Darauf folgten Halle, Leipzig, Straßburg und weitere (Zschaler 1997: 42). Auch hinsichtlich der Organisation waren die Staatswissenschaften in Berlin konservativ. Sogenannte „Seminare“, die zugleich institutionelle Einheit wie Lehrformat meinten, setzten sich ausgehend von den Naturwissenschaften zunehmend gegenüber dem Vorlesungen unabhängiger Lehrstuhlinhaber durch. So bestand in Berlin schon ein theologisches, philologisches und juristischen Seminar. Die Gründung eines staatswissenschaftlichen Seminars war in der Hauptstadt des neuen Kaiserreiches überfällig.

Um in dieser Entwicklung aufzuholen, brachte der Kultusminister Adalbert Falk ab den 1870ern einen Kaderwechsel in der Professorenschaft der Staats- und Kameralwissenschaften auf den Weg. Maßgeblich waren die Berufungen der vier Professoren, die als Gründungsmitglieder des Seminars tätig werden sollten: der Nationalökonom und Finanzwissenschaftler Adolph Wagner (1870-1917), der Agrarhistoriker und Statistiker August Meitzen (1875-1910), der Statistiker Richard Böckh (1881-1907) und der Nationalökonom und Wirtschaftshistoriker Gustav Schmoller (1881-1917). Die Gründung des Seminars war ein einschneidendes Ereignis da diese dem Beginn einer Blütezeit der Berliner Nationalökonomie gleichkam. Unter der Führung Gustav Schmollers wurde Berlin zum Zentrum der nicht nur in Deutschland einflussreichen historischen Schule.

Die Gründung des Seminars geschah zur Zeit der Hochindustrialisierung in Deutschland. Nach der Reichsgründung entwickelte sich Berlin als deutsche Reichshauptstadt und Industriezentrum zu einer aufsteigenden Metropole Europas. Mit dem sozialen Wandel änderte sich auch auf die Hörerschaft der Staatswissenschaften. Während 1870 die größte Gruppe noch von Kindern höherer Beamten der Oberschicht gestellt wurde, waren es 30 Jahre später die Kinder von Kaufleuten, Industriellen oder Großgrundbesitzern (Klein 1985: 38). Die Hochindustrialisierung brachte auch ein steigendes Datenvolumen der statistischen Ämter mit sich. Die Fachleute des statistischen Büros reichten bald nicht aus, diese angemessen zu analysieren. Durchschnittliche Beamte sollten in der Lage sein, statistische Erhebungen in ihre Entscheidungen einfließen zu lassen. Beide Entwicklungen erhöhten die Nachfrage nach staatswissenschaftlicher Bildung.

Ein weiterer nicht unerheblicher Faktor war die Entwicklung eines öffentlichen Diskurses zu wirtschaftlichen Fragen, bei dem Wachstum, internationaler Wettbewerb, aber auch die sogenannte soziale Frage im Mittelpunkt standen. Die Mitglieder der historischen Schule sollten maßgeblich zu diesem neuen öffentlichen Bewusstsein beitragen. Dies äußerte sich in zahlreichen Stellungnahmen in Briefen, Beiträgen und wissenschaftlichen Artikeln, aber auch in einer Tendenz politische Fragen in universitären Veranstaltungen zu diskutieren. Ein wichtiges Organ dieser Diskussionen war die ebenfalls 1883 von Schmoller gegründete Staatswissenschaftliche Gesellschaft Berlin, in der Professoren aus mehreren Disziplinen (u.a. auch Wilhelm Dilthey) genauso wie höhere Regierungs- und Verwaltungsbeamte Teil hatten (vom Bruch 1983). Besonders Wagner und Schmoller suchten die Nähe zum politischen Alltagsleben. Sie waren beide Gründungsmitglieder des Vereins für Socialpolitik, bekleideten Regierungsämter und äußerten sich in der Öffentlichkeit zu tagespolitischen Fragen, was ihnen bald den Ruf als „Kathedersozialisten“ verlieh.

Der Gründungsvorgang

Kurz nach der Ankunft Schmollers 1881, richtete dieser zusammen mit dem schon seit 1870 in Berlin tätigen Adolph Wagner, August Meitzen, und Richard Böckh am 15.02.1883 einen „Gesuch um der Einrichtung eines staatswissenschaftliche-statistischen Seminars an den Preußischen Minister für Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten“ (Originaltext) (GStA PK:I, Rep.76Va, Sek. 2, Titel X, Nr.113, Bd. 1) . Darin beklagten sie, dass die Staatswissenschaften an der Berliner Universität im deutschlandweiten Vergleich kaum entwickelt sei, versicherten die leichte Anschließung eines Seminars an die bereits existierenden Seminarstrukturen der theologischen, der juristischen und der philologischen Fakultät, unterstrichen die Nachfrage unter den Studenten angesichts der vielen Teilnehmer am Seminar des statistischen Büros, und betonten die Kompetenz der Mitglieder mit Verweis auf die Mitarbeit am königlich preußischen statistischen Büro und im Fall Schmollers auf Erfahrung als Mitbegründer eines ähnlichen Seminars an der Universität Straßburg. Die Seminarform, so die Antragsteller, sei weit dem traditionellen Kathedervortrag vorzuziehen. Denn für eine nachhaltige Forschung sei in allen Fächern, aber besonders in der Statistik die Nähe zwischen Lehrer und Schüler wesentlich. Sie bemängelten, dass das statistische Seminar des königlich preußischen statistischen Büros zunehmend die Lehre der Statistik übernehme, die eigentlich in den Aufgabenbereich der Universität fiele. Statistik „gehört aber, wenigstens was die Studenten und die sich wissenschaftlichen Laufbahnen widmenden jungen Männer anbetrifft an die Universität“. (Ibid) Auch die Vorbeugung der unsachgemäßen Anwendung der Statistik war ihnen ein Anliegen. Sie forderten „dass der große, bis zum Missbrauch führende Mangel an Verständnis […] wenigstens in Kreisen der Beamten allmählich besserer Einsicht Platz macht.“ (Ibid.)

Wenn auch diese Argumente auf keinen Widerstand stoßen sollten, so muss doch auf die Ironie hingewiesen werden, dass die eingeforderte Eigenständigkeit der Staatswissenschaften mit der Forderung eines Pluralismus der Herangehensweisen an wirtschaftliche Phänomene, wie sie Schmoller im Methodenstreit vertrat, im offenen Widerspruch steht.

Der Antrag hatte Erfolg. Am 12. August 1886 wurde durch Erlass des zuständigen Ministers das erste wirtschaftswissenschaftliche Hochschulinstitut der Friedrich-Wilhelms-Universität, das „Staatswissenschaftlich-Statistischen Seminar“ gegründet (Erlass 1886, Originaltext). Im Zuge dessen wurden die antragstellenden ordentlichen Professoren zu gleichberechtigten Direktoren ernannt. Aus dem Kreise der Direktoren wurde ein geschäftsführender Direktor gewählt. Als erster nahm Meitzen dieses Amt an, später folgten unter anderen Sering und Bernhard. Das Institut vereinigte die Teilgebiete der Staatswissenschaften, Nationalökonomie, Verwaltungslehre, Statistik und Wirtschaftsgeschichte, sowie obwohl nicht beantragt, die Agrargeschichte. Trotz der Seminarstruktur agierten die Lehrstühle weiterhin unabhängig. Statt inoffiziell in den Privatwohnungen der Dozenten wurde nun im provisorischen Statut von 1886 festgelegt, dass die Übungen in den Mieträumen der Dorotheenstraße 5 stattfinden sollen. Im Gründungsjahr betrug die Anzahl der Seminarteilnehmer 35. Mehr als ein Drittel stammten nicht aus dem Deutschen Reich sondern meist aus Osteuropa, aber auch aus Asien und den Vereinigten Staaten. Nach der Ordnung des provisorischen Statuts von 1886 (Provisorisches Statut nach Daude 1887: 446 ff.) nahmen neben Fachökonomen unter anderen auch Juristen, Historiker und Philosophen an den Übungen teil. Die Ausgaben des Seminars (hauptsächlich Miete der Seminarräume und Anschaffungskosten einer Fachbibliothek) sollten einerseits durch eine staatliche Dotation und andererseits durch einen Semesterbeitrag gedeckt werden. Im provisorischen Statut wurde in §2 die Teilnahmegebühr auf 5 Mark pro Semester festgelegt, die jeder Seminarteilnehmer entrichten musste.