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1882-1933: Das staatswissenschaftlich-statistische Seminar

Lehrkörper und Studierende

Unter der Leitung Wagners und Schmollers wurde das Staatswissenschaftlich-Statistische Seminar während der 1880er und 1890er Jahre zu einem Aushängeschild der philosophischen Fakultät. Während vorher vor allem Juristen staatswissenschaftliche Veranstaltungen besuchten, kam Ende des 19. Jahrhunderts erstmals breites Interesse an einer explizit nationalökonomischen Ausbildung auf.

Bis 1900 haben die vier Direktoren Wagner, Schmoller, Meitzen und Böckh, welche die Ordinariate innehatten, das Seminar geprägt. Fünfter Ordinarius wurde 1893 der Agrarwissenschaftler Max Sering, der gleichzeitig an der Landwirtschaftlichen Hochschule tätig war. Sering war außerordentlich produktiv und betreute mehr Promotionen als jeder andere Professor. 1899 wurde Meitzen durch Karl Ballod, und 1901 wurde Böckh durch Ladislaus von Bortkiewicz abgelöst. Gerade mit von Bortkiewicz war die Statistik in Berlin in den folgenden Jahrzehnten erstklassig besetzt (Krause 1998, Schmölders 1960: 164, siehe auch hier). Dieser zog nach dem Ersten Weltkrieg Studenten aus Russland an, darunter die später sehr einflussreichen Wassily Leontief und Jacob Marschak. Marschak promovierte 1922 bei Lederer und Weber, und Leontief 1928 bei Sombart.

1908 kam Ludwig Bernhard nach Berlin, dessen Berufung wegen seiner politisch umstrittenen Veröffentlichungen über die preußische Polen-Politik heftig kritisiert wurde. Politisch war er aber grundsätzlich konservativ, und wurde vor dem Ersten Weltkrieg durch seine kritische Haltung gegenüber der Sozialpolitik bekannt. 1912 wurde zudem Heinrich Herkner berufen, der sich vor allem mit der Arbeiterfrage und sozialpolitischen Themen beschäftigte und in engem Kontakt mit Schmoller stand. Herkner sollte Schmollers Nachfolger sowohl auf seinem Lehrstuhl, als Direktor des Seminars, als auch als Vorsitzender in Verein für Socialpolitik werden. Wagner und Schmoller, Wagner krankheitsbedingt, legten 1913 ihren Lehrauftrag nieder. Seit der Gründung des Seminars hielt immer auch ein historischer Professor, bis 1896 Heinrich von Treitschke und danach Otto Hintze, Vorlesungen mit staatswissenschaftlichen Inhalten wie der Wirtschaftpolitik oder auch der Ideengeschichte (Czech 2010: 285 ff., Schmölders 1960: 160 ff.)

Man sagte Schmoller durch seine enge Freundschaft mit dem preußischen Kulturminister Friedrich Althoff und anderen hohen Beamten sowie wegen seiner umfangreichen Gutachtertätigkeit erheblichen Einfluss auf die Berufungen in Berlin und im gesamten Preußen nach. Tatsächlich werden nur zumeist Professoren berufen, die Schmoller in irgendeiner Weise nahestehen (sei es methodisch, politisch, oder persönlich). Von dem Gegenwind aus den in der Bildungspolitik weitgehend autonomen süddeutschen Staaten, den er im Verein für Sozialpolitik deutlich zu spüren bekommt, war am Seminar nichts zu spüren. Die Berufung Werner Sombarts, ein Promovend Schmollers, mag hier als Ausnahme gelten, da dieser 1906 zunächst nur an die Handelshochschule berufen wurde und erst nach Schmollers Tod auch an der Universität lehren konnte (Lindenlaub 1967: 148). Sombart war eine Professur an der Universität von der preußischen Regierung versagt worden, da er sich dieser gegenüber kritisch geäußert hatte.

Das gestiegene Ansehen des Seminars schlägt sich auch in den Studentenzahlen nieder: Während 1870 12 Studenten in den Staatswissenschaften eingeschrieben waren, wuchs die Zahl bis Mitte der 90er Jahre auf ca. 40 und auf 720 im Jahr 1917 an. Auch die Mitgliederzahlen des Seminars waren in einem Höhenflug. Waren es 1887 noch 37, waren es 1893 schon 125 und ab 1901/02 sogar über 200 (Schmoller, Sering, Wagner 1910: 271). Die Seminarteilnehmer waren eine sehr heterogene Gruppe nicht nur, was ihre nationale Herkunft (siehe unten), sondern auch ihre disziplinäre Herkunft betraf. 10-25% der Seminarteilnehmer hatten bereits ein Studium abgeschlossen und waren zumeist als Assessoren tätig (Lenz 1910: 272). Daneben saßen neben Nationalökonomen auch Juristen, Historiker, und Philosophen in den Seminaren.

Im selben Zeitraum zwischen 1875 und 1896 verfünffachte sich der Lehrkörper (Czech 2010: 278, 287). Zunehmend wurden Seminare von Privatdozenten und außerordentlichen Professoren durchgeführt, die bald die große Mehrheit aller Veranstaltungen abdeckten. Damit stieg auch die Menge und die Vielfalt der Lehrinhalte. Während es im akademischen Jahr 1884/1885 noch 19 Lehrveranstaltungen mit staatswissenschaftlichem Inhalt angeboten wurden, waren es 1899/1900 33 und 1913/1914 schon immerhin 50. Den größten Zuwachs (von etwa 28 auf 53 Prozent) hatten dabei die nationalökonomischen Kernfächer zu verzeichnen, also die allgemeine und spezielle Nationalökonomie zusammen mit der Finanzwissenschaft. Immer wichtiger wurde auch der Themenbereich rund um das Gebiet der sozialen Frage, Arbeiterbewegung und Sozialismus, dem sich 1913 etwa 15% der Veranstaltungen widmeten. Einen tatsächlichen Rückgang erlebten dagegen die Bereiche Landwirtschaft und Verwaltungswissenschaften.

Das nun systematisierte Studium setzt sich zusammen aus Vorlesungszyklen, Übungen sowie Exkursionen. So wurden zum Beispiel zwischen 1871 und 1911 von Albert Orth Exkursionen in landwirtschaftliche Betriebe angeboten. Die Übungen hatten heutigen Seminarcharakter und sollten die Studenten über selbstständige wissenschaftliche Arbeiten an die Forschung heranzuführen (wobei die Übungen der jüngeren, oft nicht promovierten Dozenten den Charakter eines Proseminars hatten). Aus den Berichten der Professoren in der Universitätschronik, die ab 1888 dokumentiert sind, geht hervor, dass die nationalökonomische Übung, mit der sich Wagner und Schmoller semesterweise abwechselten mit bis zu 30 Teilnehmern überfüllt war, die historisch-statistische Meitzens mit ca. 12 Teilnehmern ideal besetzt, und die statistische Böckhs mit nur zwei bis höchstens acht Studenten unterbesucht war. Die Seminararbeiten wurden oft zur Grundlage für Dissertationen, Artikel und Monographien, von denen manche in neugegründeten Schriftreihen wie den „Staats- und sozialwissenschaftlichen Forschungen“ oder den „Schriften des Vereins für Sozialpolitik“ veröffentlicht wurden. Die Promotionen befassen sich in etwa gleichen Teilen mit historischen, finanzwissenschaftlichen, gewerbekundlich- und landwirtschaftlichen Themen sowie mit sozialen Themen (Czech 2010: 291f.).

Gleichzeitig wurden auch neue Fächer in die Vorlesungsverzeichnisse aufgenommen. Seit 1900 hält Georg Simmel als außerordentlicher Professor für Philosophie Vorlesungen und Übungen zur Soziologie. Dem folgte 1909 Franz Oppenheimer als Privatdozent. Außerdem tauchen erstmals Veranstaltungen mit einem explizit globalen Bezug wie „Welthandel“ oder „Weltwirtschaft“ auf. Am Vorabend des ersten Weltkriegs hat sich der Fachbereich weitgehend verselbstständigt und von der Rechtswissenschaft emanzipiert.

1908 wurden per Erlass Frauen erlaubt, sich an Preußischen Universitäten zu immatrikulieren (siehe Dokument Erlass). Dies war im nationalen Vergleich vergleichsweise spät. Im selben Jahr finden sich schon 414 Studentinnen von 6623 Immatrikulierten an der Universität ein (Lehnert 1999: 14). 1913 war bereits jeder zehnte Studierende eine Frau. Dass der Wandel im Denken sich noch nicht vollständig vollzogen hatte, zeigt der dritte Punkt des Erlasses. In diesem heißt es wie folgt: „Aus besonderen Gründen können mit Genehmigung des Ministers Frauen von der Teilnahme an einzelnen Vorlesungen ausgeschlossen werden“. Von dieser Regelung machten jedoch nachweislich nur fünf Professoren Gebrauch. Im Gegenzug waren Wagner, Sering, und Schmoller Frauenförderer. Wagner lies schon vor dem offiziellen Erlass eine Frau an den Staatswissenschaften promovieren. Zwischen 1906 und 1918 promovierten insgesamt 17 Frauen in den Staatswissenschaften.

Adolph Wagner
Quelle: Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin
Gustav Friedrich von Schmoller
Quelle: Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin
August Meitzen
Quelle: Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin
Richard Böckh
Quelle: Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin