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1810-1882: Der Lehrstuhl für Kameral- und Staatswissenschaften

Studien- und Lehrinhalte

Ideengeschichtlicher Hintergrund

1910 beschrieb der Historiker Max Lenz die Tätigkeiten der Staatswissenschaften 100 Jahre vor ihm als Konglomerat von Lehren, die durch Verwaltungsbedürfnisse zusammengehalten wird: „Man verstand darunter eine Summe von Einzelkenntnissen, welche, ohne rechte innere Verbindung untereinander zu besitzen, für die Verwaltung wichtig erschienen, und deren Erlernung daher von der Regierung wiederholt dringend eingeschärft wurde.“ (1910: 250) Die Studieninhalte waren in der Tat nicht durch einen disziplinären Kanon bestimmt, sondern waren einerseits von den Bedürfnissen der Ausbildung junger Staatsdiener und andererseits von den lehrenden Personen abhängig. Staatswissenschaft war gleichsam angewandter Staatsabsolutismus. Während sich in Frankreich und in England schon ein gewisser Intellektualismus bezüglich wirtschaftspolitischer Institutionen und Politiken etabliert hat, dominierten im Preußischen Staat vor allem die Philosophen und Rechtswissenschaftler die politische Intelligenzija. Viele der Themen, die heute als ökonomische verstanden werden, wurden in der Rechts- und Staatsphilosophie des deutschen Idealismus behandelt, der mit Fichte als Gründungsvater der Universität in Berlin vertreten war (siehe zum Beispiel seine Schrift zum geschlossenen Handelsstaat (Fichte 1800), aber auch die nationalökonomische Lehren von Eduard Gans, einem Hegelschüler, oder die Ökonomischen Bezüge in Schleiermachers Staatslehre, Waszek 1988).

Dennoch werden die Kameralwissenschaften in der Geschichtsschreibung oft als einer der Vorläufer der heutigen Wirtschaftswissenschaften verstanden. Der Kameralismus, den man gemeinhin auch als deutsche Fassung des französischen Merkantilismus des absolutistischen Staates versteht, lehnt sich an das frühmoderne feudale System an, und fordert die Stärkung der Landwirtschaft und des Bevölkerungswachstums als die zwei Quellen wirtschaftlicher Stärke und politischer Macht. Hoffmann kann als ein Vertreter dieses kameralistischen Denkens verstanden werden ohne dass er sich einer bestimmten Schule verpflichtet fühlte.

In Abgrenzung zum Merkantilismus hat sich schon vor der englischen Klassik in Frankreich die Physiokratie entwickelt, welche die erste selbstbewusste Schule der Nationalökonomie war. Physiokraten forderten ein Wirtschaftssystem nach dem Konzept der natürlichen Ordnung, welches sich durch Freihandel, dem „Laissez-faire“ durchsetzten sollte. Eine Grundthese der Physiokraten war, dass Boden der einzige produktive Faktor in der Wirtschaft sei, also nur in der Landwirtschaft Überschüsse entstehen können. Trotz der Umstrittenheit dieser These vertrat Theodor Schmalz in Berlin unbeirrt die Anschauungen der Physiokratie. Schmalz hat „die physiokratische Wirtschaftsauffassung hartnäckig gegen alle Angriffe verteidigt – kamen sie nun von Seiten der merkantilistischen Tradition oder aus der neueren Richtung Adam Smiths.“ (Kraus 1999: 513) Hoffmann und Schmalz vertraten unterschiedliche Inhalte in ihren Vorlesungen. Im Gründungsjahr der Universität wurden zwei Vorlesungen zur „ Staatswirthschaft“ angeboten, die eine von Professor Hoffmann und die andere von Professor Schmalz. In beiden Vorlesungen waren circa 15 Hörer anwesend (Virmond 2011).

Die Rezeption der englischen Klassik war schwach in Berlin. Obwohl Hoffmann zwar mit den modernen Thesen Adam Smiths vertraut war, die Kraus in Königsberg unterrichtete (Loening 1914: 55), bekannte sich Hoffmann nie zu dessen Theorien, was durch seine Nähe zum preußischen Beamtentum bedingt war. In den wenigen Veranstaltungen von Eiselen konnte man von den englischen Lehren hören. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Auseinandersetzung mit Smith unabdingbar, nicht zuletzt aufgrund der Rezeption durch Friedrich List (Tribe 1988, Zboralski 1986:18).

Eine vierte Orientierung, die sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an anderen deutschen Universitäten ausbreitete, war der Historismus. Jedoch spielte dieser bis in die 1880er Jahre kaum eine Rolle für die Berliner Universität. Keiner ihrer wichtigsten Vertreter wie Georg Friedrich Wilhelm Roscher (Göttingen und Leipzig), Friedrich Bruno Hildebrand (Marburg, Zürich, Jena) und Karl Gustav Adolf Knies (Freiburg, Heidelberg) lehrten in Berlin. Allgemein waren die Universitäten in den kleineren, süddeutschen Staaten auf dem Gebiet der Staatswissenschaften führend vor Preußen (in Tübingen gab es schon seit 1817 eine staatswissenschaftliche Fakultät). Wenn auch Berlin das Zentrum des Historismus werden sollte, so war der Einfluss des Historismus bis zur Berufung Schmollers auf die Berliner Universität gering.

Lehrinhalte

1806 beauftragte der damalige Minister von Massow die preußischen Universitäten Gutachten zu der Lehre der Kameralistik zu erstellen. Die einflussreichste Antwort erfolgte von Königsberg von Christian Jakob Kraus, einem Vertreter der Lehren Adam Smiths. Kraus hatte auf viele Preußische Staatsdiener beträchtlichen Einfluss ausgeübt (Inama-Sternegg 1880: 3). Diese Denkschrift kann als Vorform eines Studienplans betrachtet werden, „welche den Umfang dieser Disziplin definieren und als Norm für die öffentliche Prüfung gelten sollten“ (Lenz 1910: 251). Die darin enthaltenen Überlegungen sind auch für Berlin relevant, nicht zuletzt da Hoffmann bei Kraus studiert hat.

Kraus gliederte die Staatswissenschaften in drei Teile, die Gewerbekunde (Landwirtschaft, Technologie und Handel), die Staatswissenschaft im engeren Sinne (Analyse von Wesen und Ursache des Nationalvermögens), sowie die Finanz-und Polizeiwissenschaft. Mit dieser Unterteilung beschrieb er die Aufgabe der Staatswissenschaften als „die Analyse der Natur und der Ursachen des nationalen Staatsvermögens und -einkommens samt der Darstellung des Zusammenhanges aller sich darauf beziehender Grundsätze überhaupt, als auch in Hinsicht auf die drei in dem materialen Teil enthaltenen Zweige im besonderen.“ (in Lenz 1910: 251)

Kraus charakterisierte die Finanzwissenschaft als „die Wissenschaft von den Bedürfnissen und Hülfsquellen des Staates“ und „die Polizeiwissenschaft als die Darstellung der Veranstaltungen und Maximen zur Handhabung der durchgängigen inneren und äußeren, öffentlichen und privaten Sicherheit.“ (in Lenz 1910: 251, Waszek 1988) Diese Verbindung von Haushaltsfragen und Sicherheitspolitik war typisch für das merkantilistische Denken.

Staatswissenschaftliche Veranstaltungen wurden oft als ein Aspekt anderer Veranstaltungen unterrichtet. Friedrich von Raumer, Professor für Staatswissenschaft und Geschichte, verband in seinen Veranstaltungen Geschichte, Staatswissenschaft und Recht. Auch die landwirtschaftlichen Veranstaltungen von Albrecht Thaer oder die technischen Veranstaltungen des Chemikers Sigismund Friedrich Hermbstädt trugen zu den Lehrinhalten der Staatswissenschaften bei. Besonders im agrarwissenschaftlichen Bereich fällt die tiefgehende Spezialisierung mancher Veranstaltungen auf (z.B. „Die in der Landwirtschaft schädlichen und nützlichen Insekten“ von Carl Eduard Adolph Gerstäcker zwischen 1866 bis 1872).

Obwohl die Staatswissenschaften als eine entscheidende Voraussetzung für den Staatsdienst seit Beginn fester Bestandteil des Lehrplans waren, reichte grundsätzlich das Jurastudium für den Staatsdienst aus. „Die Staatswissenschaften zu hören und sich in ihnen zu bilden, wurde dem den höheren Verwaltungsdienst anstrebenden Studenten zwar schon seit längerem nahegelegt, allein verpflichtend war es für die noch immer nicht, hierfür reichte nach den preußischen Regelungen die Absolvierung des Jurastudiums“ (Czech 2010: 278-279). Es waren also vor allem Jurastudenten, welche die staatswissenschaftlichen Vorlesungen besuchten, und von diesen nur sehr wenige. Bis zur Gründung des Seminars in den 80er Jahren gab es darüber hinaus keine Möglichkeit, einen Abschluss in den Staatswissenschaften zu machen. Man beachte auch, dass zur Zeit der Gründung der Universität viele, die in wirtschaftlichen Berufsfeldern tätig waren, in den Betrieben oder den Handelsschulen ausgebildet wurden, die kaufmännisches Fachwissen wie die Buchführung vermittelten. Eine akademische Betriebswirtschaftslehre gab es im 19. Jahrhundert noch nicht.

Christian Jakob Kraus