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1945-1989: Die wirtschaftswissenschaftliche Sektion zur Zeit der DDR

Planung der Wirtschaftswissenschaften unter Honecker

Am 3. Mai 1971 wurde Erich Honecker zum neuen Ersten Sekretär (ab 1976 Generalsekretär) des ZK der SED gewählt, und löste damit den zurückgetretenen Walter Ulbricht ab. Dieser Wechsel markiert den Übergang vom DDR-spezifischen hin zum internationalen Modell des Sozialismus (dem „Bruderbund“), sowie eine Änderung der Wirtschaftspolitik von einem Wachstums- und Technologieschwerpunkt zu einer konsumnahen Wirtschaftspolitik bei zunehmender Zentralisierung und Verstaatlichung – der sogenannten „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. „Für unsere Gesellschaft ist die Wirtschaft Mittel zum Zweck“, so Honecker, „Mittel zur immer besseren Befriedigung der wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse des werktätigen Volkes“ (SED 1971: 29). Als man von Ulbrichts Konzeption des NÖS absah trat, so Krause, „die orthodoxe Politische Ökonomie mit den tradierten Dogmen von ‚Basis und Überbau‘ (…) wieder voll in ihre alten Rechte ein“ (Krause 1998: 199).

Am VIII Parteitag der SED im Juni 1971 wurde unter anderem auch eine intensivere Kontrolle und Planung der Wissenschaft beschlossen, der nun insgesamt eine größere Rolle im internationalen Wettbewerb zuerkannt wurde. Die Regierung war bereit, die Funktionsbereiche der Wissenschaft zu respektieren, wenn auch die schwierige Grenze zwischen Ideologie und Wissenschaft noch stets zugunsten der Politik gezogen wurde. Leonid Breschnew, Parteichef der KPdSU, betonte in seiner Abschlussrede des VIII Parteitags die Rolle der Wissenschaft im Sozialismus.

„Der Parteitag ist der Ansicht, dass es notwendig ist, Errungenschaften der wissenschaftlich- technischen Revolution organisch mit den Vorzügen des sozialistischen Wirtschaftssystems zu vereinigen und in größerem Umfang als bisher dem Sozialismus eigene Formen des Zusammenschlusses der Wissenschaft mit der Produktion zu entwickeln“. (SED 1971: 77)

Der Parteitag beschloss einen Leitfaden für die Wirtschaftswissenschaften. Kurt Hager war eine zentrale Persönlichkeit in der Ausgestaltung dieses Leitfadens. Seiner Meinung nach hatten sich die Wirtschaftswissenschaften zu weit von der Politik entfernt; unter anderem würde die sogenannte „Modellhascherei“ die engere Anbindung an die politischen Aufgaben verhindern (Mann 1973: 79). Durch qualitatives wissenschaftliches Arbeiten sei es einfacher der politischen Aufgaben gerecht zu werden. Darüber hinaus war qualitative Arbeit in den anderen Geisteswissenschaften üblich, und eine Integration der Wirtschaftswissenschaften in die übrigen Geisteswissenschaften war politisch erwünscht. Eine gemeinsame Methode könnte diesen Prozess vereinfachen und gar beschleunigen.

Qualitative Methoden war ebenfalls relevant für die „Festigung der Bruderschaft“ mit der Sowjetunion: „Wir müssen es noch besser verstehen, wirklich für jedermann anschaulich, konkret und beweiskräftig die Rolle der Sowjetunion als Kern und Hauptmacht des sozialistischen Weltsystems, als Zentrum der revolutionären Weltbewegung darzustellen. […] eine der wichtigsten Aufgaben der Gesellschaftswissenschaftler [ist es], die Erfolge, die riesige Kraft, den internationalen Einfluss und die Überlegenheit der Sowjetunion und des sozialistischen Weltsystems auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens in den vielfältigen Formen darzustellen.“ (Hager 1987: 34)

Im Anschluss an den VIII Parteitag, im April 1972, wurde der wissenschaftliche Rat für die wirtschaftswissenschaftliche Forschung des ZK gegründet, womit die Wirtschaftswissenschaften nun offiziell Teil der Fünfjahrespläne wurden. Der Wirtschaftswissenschaftler Helmut Koziolek leitete den Rat. Bei dessen zweiten Tagung wurde über die wesentliche Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften diskutiert. Als Primat galt die Einheit von Wirtschaftspolitik, Wirtschaftspraxis und Wirtschaftstheorie. Diese Einheit wurde immer wieder als der Ausgangspunkt für die wirtschaftswissenschaftliche Forschung und Lehre betont. Im Bericht der zweiten Tagung des Rates mit dem Titel „Dialektische Wechselbeziehungen zwischen ökonomischer Theorie, Wirtschaftspolitik und Wirtschaftspraxis und die damit verbundenen Konsequenzen für die wirtschaftswissenschaftliche Forschung“ heißt es: „Die einzelnen Abschnitte der von der Partei geführten Entwicklung unseres sozialistischen Aufbaus beweisen immer wieder, dass keine ökonomische Problematik des Sozialismus außerhalb dieser konkreten Einheit von Theorie, Wirtschaftspraxis und Wirtschaftspolitik gesehen werden kann.“ (Koziolek 1973: 59) Die Auflockerung der Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik würde die Wissenschaft zur Sterilität treiben. Im selben Dokument: „Die ökonomische Theorie kann nicht anders wirksam werden als über die Wirtschaftspolitik, d. h. über die Vervollkommnung der Wirtschaftspolitik selbst, wie über ihre effektivere praktische Umsetzung“ (Koziolek 1973: 13,Originaltext).

Die Politische Ökonomie des Sozialismus wurde als das zentrale Fach der Wirtschaftswissenschaften anerkannt. Aufgrund deren erhöhten Bedeutung sorgte sich der Rat aber auch, dass die anderen Fächer der Gesellschaftswissenschaften in den Hinterhalt geraten, und eine eigene Kultur entwickeln. So betonte der Rat die Einheit der ganzen Wirtschaftswissenschaft. „Die Einheit von ideologischer und produktiver Funktion wurde bisher nur für die politische Ökonomie des Sozialismus formuliert, gilt jedoch für die Wirtschaftswissenschaften insgesamt. Sie ist unteilbar, sowohl was das Untersuchungsobjekt und die Untersuchungsmethode als auch was die Disziplin oder die Institution betrifft. […] Die Einheit von ideologischer und produktiver Funktion gilt für Ausbildung, Erziehung und Forschung gleichermaßen.“ (Autorenkollektiv, 1955, 16).

Die tatsachliche Rolle der Wirtschaftswissenschaften als Planungsinstrument unterschied sich trotz der Dominanz der politischen Ökonomie des Sozialismus nicht grundlegend von einer Zielsetzung der Wirtschaftswissenschaften im Westen. Mit folgenden Worten beschrieb der Rat die zentrale Bedeutung des Gewinns als Anreizmechanismus kosteneffizienter Produktion: „Eine wesentliche Seite für die wirksamere Ausnutzung der ökonomischen Gesetze besteht deshalb in Zukunft darin, auf der Grundlage einer qualifizierten materiellen Planung und Bilanzierung die Wirkungsrichtungen des Gewinns so zu verändern, dass die gewinnbildenden Faktoren auf die Verminderung des gesellschaftlich-notwendigen Aufwands, die Senkung der Kosten und in untrennbarer Einheit damit die bedarfsgerechte Produktion gerichtet sind.“ (Koziolek 1973, 30).

Wohlfahrtstheoretische Überlegungen, die Wirtschaftsinstitutionen so zu gestalten, dass das Interesse, sprich Eigeninteresse, der Betriebe die soziale Wohlfahrt „maximiert“, wurden 1982 vom Rat mit folgenden Worten umschrieben: „Die sozialistische Planung, ökonomische Stimulierung und wirtschaftliche Rechnungsführung [ist] so zu fundieren, dass die volkswirtschaftlichen Erfordernisse in Übereinstimmung mit den Interessen und Leistungsbestrebungen der Kombinate und Betriebe realisiert werden“ (Koziolek 1982, 14). Dennoch hieß es zugleich, dass politische Relevanz allein durch die Marxistische Fundierung garantiert sei: „Gerade die Vertiefung marxistisch-leninistischer Grunderkenntnisse ist unerlässlich, um sichere, wissenschaftsfundierte und praxiswirksame Lösungen für die weitere Entwicklung unserer sozialistischen Wirtschaft zu finden“ (Hager 1987: 39).

Mit der Ära Honecker wurde „Volkswirtschaftsplanung“ ein zentrales Fach und die Beratungsfunktion der Wirtschaftswissenschaften deutlich erhöht. Auch die „sozialistische Betriebswirtschaftslehre“ wurde wieder aufgewertet, um Studenten in Richtung der Konsumgüterindustrie zu lenken. Trotz der massiven politischen Lenkung der Wirtschaftswissenschaft, drängte in einigen Bereichen, wenn auch unwissentlich, die westliche Theorie mit durch: vor allem die Kybernetik als Planungsparadigma, das auch in der Sowjetunion anerkannt wurde (Wollmann 2010: 10; Düppe 2014). Auch die Fächer Statistik und elektronische Datenverarbeitung unterlagen diesem Einfluss. Manche wissenschaftlichen Werte wurden hier wie da geteilt, vor allem die der empirischen Analyse, genauso wie die (betriebliche) Planungsmethoden, die im Westen als Operations Research bekannt waren. Die westliche Ökonomie bewegte sich somit zwischen bürgerlicher Ideologie und sozialistischem Planungsinstrument (Strohe 1996: 33).

In den 80er-Jahren war die Regierung grundsätzlich bereiter auf die mathematische Orientierung der Wirtschaftswissenschaften einzugehen. Dieser Wandel und die Bereitschaft zur Entwicklung entstanden durch das Interesse der Staatsführung nach internationaler Anerkennung, also „internationaler Wettbewerbsfähigkeit“ (Kocka 1998: 435-436). 1986 kam es zu einer Konferenz an der Sektion, an der auch westdeutsche Ökonomen Teil hatten. Schmerbach erinnert sich: „Es gab eine wissenschaftliche Konferenz für Statistiker und Mathematiker auf Hiddensee im Jahre 1986. Daran haben nicht nur Wirtschaftswissenschaftler aus der Humboldt Universität teilgenommen, sondern auch Vertreter der Akademie der Wissenschaften sowie Kollegen aus der Bundesrepublik und Westberlin. Mit großer Sicherheit wurde das ganze Treffen beobachtet.“ (persönliches Gespräch)

Erich Honecker
Quelle:
Bundesarchiv, Bild 183-R0518-182 / CC-BY-SA