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1882-1933: Das staatswissenschaftlich-statistische Seminar

Schmollers Einfluss

Mit der Person Schmollers wurde die Friedrich-Wilhelm-Universität zum Zentrum der jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie. Mit Schmoller brachte sich zum ersten Mal in Berlin ein Ökonom in die Grundlagendebatten der Wissenschaft ein, indem er die Position des führenden Berliner Historikers Rankes aufgriff, die Geschichte als Grundwissenschaft zu gestalten. Wie er später in seiner Rektoratsrede (Originaltext) sagte: „wirtschaftliche Zusammenhänge können erst aus der Kenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit des Wirtschaftslebens gewonnen werden“. (Schmoller 1897: 315-342) (siehe Schmölders 1960: 156f). Schmollers Ziel war es, die Nationalökonomie als eine moralisch-politische Geisteswissenschaft auf der Grundlage der Geschichtswissenschaft als „induktive“ Wissenschaft zu gestalten. Die Statistik war dabei neben der beschreibenden Moral,- und Geschichtswissenschaft wesentliches methodisches Hilfsmittel. Sie sei es, die der Wissenschaft „Genauigkeit, Präcision und feste Größenvorstellungen“ gebracht habe und „voreilige Generalisationen und verschwommene Vorstellungen beseitige“ (Schmoller 1897: 332). Schmoller konnte damit an die bestehenden Institutionen des statistischen Amtes anschließen. Seine Lehre stand nicht für eine Verdrängung zuvor bestehenden Lehrmeinungen, sondern für deren Ausweitung auf ein wissenschaftliches Profil.

Schmollers Forschung bestand zum größten Teil in akribischen Kleinarbeit an historischen und statistischen Daten, die in einem enzyklopädischen Werk hinterlassen sind. Als Beispiel lässt sich die 12-bändige Acta Borussica anführen, die Schmoller im Auftrag der preußischen Akademie der Wissenschaften 1887 zum ersten Mal herausgab. Diese Forschungen Schmollers waren auch für Geschichtswissenschaftler interessant. So nannte der Berliner Verfassungshistoriker Otto Hintze, Mitherausgeber der Acta Borussica, Schmoller anlässlich dessen 70. Geburtstages einen „der erfolgreichsten Quellensucher und Pfadfinder unter den neueren Forschern“ (Hintze 1908: 185).

Schmollers zweibändiges Lehrbuch „Grundriss der allgemeinen Volkswirtschaftslehre“ (1900, 1903) war der Höhepunkt der historischen Schule. Schmoller zielte auf eine Neubegründung der Nationalökonomie ab, in dem die „wechselnden Theorien von feststehenden Wahrheiten“ abgelöst werden sollten, wie er in seiner Rektoratsrede von 1897 verkündete. (Schmoller 1897: 315ff.). Im Allgemeinen wurde Schmollers Grundriss von Historikern tatsächlich für seinen hohen Gehalt gesicherter Tatsachen gelobt, jedoch als theoretisch unbefriedigend angesehen (siehe vom Bruch 1988: 234). Schmoller sah sich im Vorwort gezwungen, sich gegen den Vorwurf zu wehren, als „Borusse“ sich die Geschichte nach eigenem Belieben zu konstruieren (Schmoller 1898: vii). Ein scharfer Kritiker von historischer Seite war der Freiburger Georg von Below. Dieser warf ihm vor, nicht nach anerkannten Methoden vorzugehen, Begriffe unpräzise zu verwenden, und auf theoretischem Gebiet zu versagen (vom Bruch 1988: 233 f.). Below schrieb, dass „der Einfluss, den er (Schmoller) besitzt, größer ist als sein geistiges Vermögen“ (zitiert nach Cymorek 1998: 158) und er nicht die Fähigkeit besitze, „ einen Beweis im strengen wissenschaftlichen Sinne zu führen“ (ibid.: 163). Schmoller selbst schätzte sein Werk wie folgt ein:

Ob das zukünftige Urteil dahin gehen werde, dass ich als Historiker gescheitert, weil ich zugleich Nationalökonom war, als Nationalökonom, weil ich nicht aufhören konnte, Historiker zu sein, muss ich dahingestellt sein lassen. Ich kann nur beides zugleich sein und bilde mir ein, das Beste, was ich zu leisten vermag dieser Verbindung zu verdanken.“ (Schmoller 1898: x)

Schmoller provozierte viele Nationalökonomen mit seiner theoriefeindlichen Haltung. Er unterstreicht an vielen Stellen seine Skepsis „gegen alle noch so geistreichen Konstruktionen und Formeln, die das Wirtschaftsleben restlos erklären wollen.“ (Schmoller 1898: ix), womit er sich von der englischen Klassik wie vom Marxismus unterscheiden wollte. Mit dieser Haltung provozierte er vor allem die Vertreter der deduktiv-orientierten Österreichischen Schule um Carl Menger, mit der er schon seit den frühen 80er Jahren in einem weitreichenden Methodenstreit stand. Schmollers polemische Rezension Mengers methodologischen Werks „Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der politischen Ökonomie insbesondere“ (1883) gilt als Auslöser des Methodenstreits. Schmollers Standpunkt im Methodenstreit auf alle Vertreter des Historismus zu übertragen, ist allerdings insofern problematisch, als dass er gerade, wenn es um die Methodik geht, keineswegs repräsentativ für alle deutschen Nationalökonomen war. („methodologische Ausnahmeerscheinung“ Lindenlaub 1967: 99). Auch wenn kein führender in Deutschland lehrender Nationalökonom uneingeschränkt die Position Mengers vertrat, wehrten sich viele gegen die grundsätzliche Theoriefeindlichkeit Schmollers.

Schmoller’s akademisches Profil kann nicht von seinem politischen Programm getrennt werden. Die historische Schule vertrat die Meinung, dass der Staat tiefgreifende soziale Reformen und Umverteilungen durchführen müsse, um die Gefahren einer Revolution abzuwehren. Damit grenzte sich die historische Schule sowohl von liberalen als auch von marxistischen Strömungen ab, womit er vor allem Preußens konservative Kräfte unterstützte. Schon vor seiner Beurung nach Berlin, hat Schmoller 1879 in einem ersten Richtungskampf im Verein für Socialpolitick diese politische Linie verfochten indem er entgegen Brentano Bismarcks Protektionismus unterstützte, was jedoch auch zu einer relativen Entpolitisierung des Vereins führte (Hagemann 2001). 1890, als die Auswirkungen der Bismarckschen Sozialgesetzgebung schon zu spüren waren, wurde Schmoller zum Vorsitzenden des Vereins für Socialpolitik gewählt. In den kommenden Jahren wurden Arbeiterschutzgesetze erlassen, gewannen die Gewerkschaften in den an Stärke und es wurden erstmals Tarifabschlüsse zwischen Arbeitgebern und -nehmern abgeschlossen. Hierauf sagte Schmoller in seiner Antrittsrede:

„Unsere Verantwortlichkeit ist heute eine größere als jemals früher, weil es sich heute nicht mehr, wie in den siebziger Jahren darum handelt, überhaupt nur Stimmung für Reformen zu machen, sondern abzuwägen, welche Schritte im einzelnen möglich, welche die besten und segensreichsten für das Vaterland sein werden.“ (in Boese 1939: 252, Originaltext)

Schmoller konnte im Verein für Sozialpolitik direkten Einfluss auf die ihm angehörigen Politiker ausüben. Prominentes Beispiel ist Johannes von Miquel, der in den 1880er Jahren als Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt am Main in Verein und Ausschuss sehr aktiv war (Lindenlaub 1967: 148 f.). 1890 wurde er zum preußischen Finanzminister in Berlin berufen und revolutionierte das Steuersystem indem er die progressive Einkommenssteuer einführte. Miquels hat vorher mit Wagner zusammen gearbeitet, der somit inhaltlich einen Beitrag zur Steuerreform beigetragen hat (Lindenlaub 1967: 142, 149). Weitere Männer in hohen politischen Ämtern im Verein waren z.B. Hugo Thiel, der in den 80er Jahren Ministerialdirektor im Landwirtschaftsministerium war, Hans Hermann von Berlepsch, der 1890 das preussische Ministerium für Handel und Gewerbe leitete und Franz Johannes von Rottenburg, der als enger Vertrauter Bismarcks in der Reichskanzlei beschäftigt war (vom Bruch 1983, S.332, ff.).

Schmoller wurde 1884 in den Preußischen Staatsrat und 1899 als Vertreter der Universität Berlin ins Preußische Herrenhaus berufen, wo er in mehreren Kommissionen mitarbeitete (zum Beispiel über die Verwaltungsreform und Kartellfragen). Durch „seine mit Sachkenntnis verknüpfte indoktrinäre Art“ war er dort stets gern gesehen (Lindenlaub 1967: 142). Im Herrenhaus, wo Arbeitgeberinteressen überwogen, gehörte Schmoller, anders als im Verein für Sozialpolitik, zum linken Flügel und kritisierte dort 1904 in einer groß angelegten Rede die Ausnahmegesetze gegen die Sozialdemokraten heftig (Lindenlaub 1967: 147). Außer bezüglich der Sozialistengesetze waren sich Bismarck und Schmoller politisch einig: Brentano meinte: „In dem, was Bismarck auf sozialpolitischem Gebiet tat, waren es gewissermaßen seine [Schmollers] Gedanken, die triumphierten.“ (Nachlass Brentano, zitiert nach Lindenlaub 1967: 144). Persönlichen Kontakt zu Bismarck, für den Schmoller persönliche Bewunderung empfand, blieb ihm jedoch verwehrt. Mit Reichskanzler von Bülow, der von 1900 bis 1909 im Amt war und bei Wagner studierte, verband Schmoller dagegen ein sehr gutes persönliches Verhältnis. Bülow betonte selber, dass er Schmollers Jahrbuch eifrig lese und der Grundriss ihm „Besitztum für immer“ geworden sei. Es entsprach ganz Schmollers Vorstellungen, dass unter Bülow die Sozialistengesetze wieder abgeschafft und Zollreformen durchgeführt wurden. Kaum ein anderer Nationalökonom erlangte so tiefe Einblicke in die Staatsmaschinerie wie Schmoller.

Als die Zeit der „sozialpolitischen Avantgarde“ des Vereins vorbeiging, wurden die Unterschiede und Richtungskämpfe zwischen Liberalen und Konservativen, der älteren und der jüngeren Generation um die Jahrhundertwende immer offensichtlicher (Lindenlaub 1967: 111). Eine immer stärker werdender und überwiegend aus Jüngeren bestehender liberaler Flügel sprach sich für weniger Staatseingriffe aus. Andererseits gab es auch jüngere Gelehrte, wie zum Beispiel Werner Sombart, die offen Sympathien für den Marxismus vertraten (Engels setzte persönlich große Hoffnungen in Sombart als dieser noch in Breslau tätig war: siehe Brief an Sombart, Engels 1895). Schmoller geriet in seinen letzten Lebensjahren im Verein für Sozialpolitik immer mehr in die Defensive. Als er auf der Mannheimer Tagung 1905 einen Vortrag über „Das Verhältnis der Kartelle zum Staate“ hielt, kam es in der darauffolgenden Diskussion wegen Äußerungen des liberalen Politikers Friedrich Naumann zum Eklat, als dieser staatliche Eingriffe in die Wirtschaft „technisch und volkswirtschaftlich betrachtet Unsinn“ nennt (Boese 1939: 113). Max Weber schreibt in dem darauf folgenden Briefwechsel, dass Schmoller „in seiner Gesamtauffassung vom Charakter des Staates von überkommenen Illusionen ausgehe“ (ibid.). In einem vertraulichen Rundschreiben äußert Schmoller daraufhin große Besorgnis über die Rolle des linken Flügels im Verein, die sich in der 1909 folgenden Werturteilsdebatte, als aus seiner Sicht gerechtfertigt erwiesen. Laut Winkel war die eigentliche Blütezeit des Kathedersozialismus schon etwa 1900 zu Ende gegangen (1977: 170).