Der am 18. Oktober 1905 bei Moskau geborene Heinrich Freiherr von Stackelberg ist ein interessanter Einzelfall der Wirtschaftswissenschaften während des Nationalsozialismus insofern er nationalsozialistische Gesinnung und neoklassische Theorie vereint und damit die Eckpfeiler beider Ideengebäude miteinander konfrontiert. Anders als die „völkischen“ Nationalökonomen, war Stackelberg international renommiert - seine Habilitation wurde von angesehenen Ökonomen wie John Hicks oder Wassily Leontief rezensiert. Seine nationalsozialistische Gesinnung schien mit diesen Arbeiten nicht im Widerspruch zu stehen.
Der Sohn eines aus Estland stammenden Deutschbalten wuchs während des Ersten Weltkrieges mit der Familie in Jalta auf, floh hierauf ins Baltikum, sodann nach Stettin. Er studierte Mathematik und Volkswirtschaftlehre an der Universität in Köln und promovierte dort im Jahre 1930 mit einer Arbeit über Grundlagen der reinen Kostentheorie (1932).
Er wurde Assistent von Erwin von Beckerath, und habilitierte sich 1934 mit der Arbeit Marktform und Gleichgewicht. 1935 folgte der Ruf nach Berlin als Ordinarius für theoretische Volkswirtschaftslehre.
Stackelberg war Nationalsozialist der ersten Stunde. Er trat im Alter von 14 Jahren in den Deutschnationalen Jugendbund ein. 1930 wurde er Führer der Westmark der Freischar junger Nation. 1931 trat er in die NSDAP ein, 1932 war er für kurze Zeit Schriftleiter der Jungnationalen Stimme. 1933 trat er der SS bei, und wurde 1934 „Führer der Nationalsozialistischen Dozentenschaft“ an der Universität Köln (Haslinger 1998: 15). In Berlin gründete er gemeinsam mit Hans Peter und Erich Schneider das Archiv für mathematische Wirtschafts- und Sozialforschung. 1937 wurde er Mitglied in der Akademie für deutsches Recht und volkswirtschaftlicher Referent im Hauptschulungsamt der NSDAP, für das er Kurse auf NS-Ordensburgen gab. Im selben Jahr trat er in das Arbeitswissenschaftliche Institut der Deutschen Arbeitsfront ein, wo er eine Volkswirtschaftliche Abteilung aufbaute.
Werk und Rezeption
Stackelbergs Forschung begann mit seiner Promotion und Habilitation in mikroökonomischer Kosten- und Preistheorie in unterschiedlichen Marktformen. Mit seiner Promotion Grundlagen einer reinen Kostentheorie (1932) erlangte er schon früh hohes Ansehen. Im dritten Kapitel beschäftigt er sich mit der Theorie der zwischenbetrieblichen Verrechnungspreise (Möller 1992: 7). Auch im vierten Kapitel seiner Habilitation, „Die Entwicklung der Kosten und die Struktur der Volkswirtschaft“, untersucht Stackelberg Variationen der Kostenfunktion als Gleichgewichtsbedingung in verschiedenen Marktformen. Mit der Lösung desselben Problems beschäftigte sich zeitgleich auch John Hicks in seinem Werk Value and Capital (1939). Sowohl Stackelberg als auch Hicks gehen von der Formulierung allgemeiner Produktionsfunktionen mit beliebig vielen Outputs und mit beliebig vielen Inputs aus.
Markt und Gleichgewicht beschäftigt sich mit der Möglichkeit von Gleichgewichten in verschiedenen Marktkonformen zwischen vollständiger Konkurrenz und Monopol. Dabei geht Stackelberg von der Nutzenmaximierung der Konsumenten, und dem „erwerbswirtschaftlichen Ziel“, also der Gewinnmaximierung der Unternehmung aus, und nimmt die freie Preisbildung als Grundprinzip an (Stackelberg 1934: 98). Unter diesen Verhaltensannahmen, so Stackelberg, seien die Marktformen des Nachfrageoligopols, des Angebotsoligopols, des bilateralen Oligopols und bilateralen Monopol nicht stabil.
„Liegen[…] die Voraussetzungen des klassischen Gleichgewichts - allgemeine freie Konkurrenz nicht vor, so zeigt das theoretische Bild ein durchaus gleichgewichtsloses, dauernd in Erschütterungen begriffenes, im Grund chaotisches Bild, das einer reibungslos funktionierenden Wirtschaft diametral entgegengesetzt ist.“ (94f.)
Daher argumentiert Stackelberg, dass ein „starker Staat“ zur Stabilisierung der Märkte beitragen kann: „Anders liegen die Dinge jedoch, wenn ein starker Staat von einer einheitlichen Zielsetzung aus dem Wirtschaftsleben einen ordnenden Willen aufzwingt.“ (Stackelberg 1934: 101) Dabei solle die Wirtschaftspolitik „ziel- und sinngemäß“ agieren. Für das Zustandekommen gleichgewichtiger Einigungen soll dieser auf dem Arbeitsmarkt als Schlichter funktionieren und sich auf dem Gütermarkt ein Vetorecht vorbehalten. So schreibt er, dass
„die freie Preisbildung aufgehoben und stattdessen ein letzten Endes vom Staat fixierter jedoch auf der Sachkenntnis und dem Sachinteresse der Beteiligten gegründeten Preis gesetzt wird. Dieser ‚konventionelle‘ Preis erscheint für jeden Marktbeteiligten als eine gegebene von seinem individuellen Verhalten unabhängige Größe.“ (Ibid.: 105)
Diese Preissetzungspolitik als Lösung von Ungleichgewichten wurde jedoch auf rein theoretischer Basis analysiert und nicht institutionell ausbuchstabiert. Der „starke Staat“ schließt den nationalsozialistischen Staat ein, aber andere nicht aus. Eine wirtschaftspolitische Empfehlung für die nationalsozialistische Politik erfolgt von Stackelberg nicht.
Im fünften Kapitel seines Buches Dogmenhistorischer Abriß verweist Stackelberg auf andere Autoren, die sich mit diesem Thema befasst hatten. Zu den von ihm am meisten zitierten Autoren gelten Erich Schneider, Francis Ysidro Edgeworth und Vilfredo Pareto. Auf dieselbe Tradition bezogen sich viele führende Ökonomen im englischsprachigen Raum, die Stackelbergs Werk mit Interesse lasen, und auch rezensierten. Während im deutschsprachigen Raum Stackelbergs Werk kaum wahrgenommen wurde, erschienen Besprechungen von John Hicks, Oskar Lange und auch Wassily Leontief. Besonders das sechste Kapitel Marktform und Wirtschaftpolitik, wo er auch auf „Das theoretische Schema des faschistisch-korporativen Marktes“ eingeht, wurde jedoch kritisch als Rechtfertigung des Faschismus betrachtet.
“His rather exaggerated idea of the instability of duopoly leads to startling results in his concluding chapters. (...) Combining these considerations with his previous analysis, he sees no way out but thorough-going price control. And so we end with a paean to the Corporate State!” (Hicks 1935: 336)
Die Rezension traf Stackelberg persönlich (Möller 1992: 10) Stackelberg reagierte:
“Such an allegation is, of course, serious; it is serious not because the corporate state might not deserve a ‘paean’, but because a theoretical investigation should if at all possible be free of ‘eulogies’. I have, however, not succeeded in finding such a ‘paean’ in my writings. Should we treat theoretical analyses of market based or plan based economic models as ‘paeans’ if they are more than just stepping stones to a negative judgement of these models?” (Stackelberg 1938)
Mit dem Aufsatz „Vertriebspolitik und Qualitätsvariation“ (1939) beginnt Stackelbergs makroökonomische Forschung. Er versucht die unternehmerische Absatzpolitik zu erklären, bei der sowohl Preise als auch Mengen Aktionsparameter sind, und untersucht konjunkturelle Schwankungen hinsichtlich des optimalen Vertriebskostenaufwands. Er veröffentlicht ab 1939 auch kapital- und zinstheoretische Untersuchungen, in dem er sich auf die österreichische Kapital- und Zinstheorie Böhm-Bawerks bezog. Stackelberg verteidigte dessen zwei Hauptargumente, die Mehrergiebigkeit längerer Produktionsprozesse und die Minderschätzung künftiger Güter. Er führt, im Gegensatz zu der österreichischen Schule eine umfangreiche mathematisch Modellierung dieser Theorie durch.
Autonomie der Wissenschaft
Während Ökonomen wie Sombart oder Jessen versuchen ihre Theorien gänzlich von ihrer Gesinnung durchfließen zu lassen und auf gesellschaftliche Realitäten zu beziehen, bezieht sich Stackelberg einzig auf die modellbasierte, neoklassische Theorie in ihrer mathematischen Form (vor allem der Differentialrechnung). Politikempfehlungen, die es durchaus vereinzelt gibt, stellen nicht den eigentlichen Zweck der Arbeit dar. Wie Stackelbergs Lehrer Beckerath (in Möller 1992: 10) sagte hat Stackelberg „sein Leben der mathematischen Wirtschaftstheorie gewidmet.“ Nach Hans Möller, ein Mitarbeiter Stackelbergs, hat Stackelberg die „Sphären Wissenschaft und Politik streng getrennt“ (Möller 1992:17). Auch Janssen schreibt, dass Stackelberg „seine offen zur Schau getragene nationalsozialistische Gesinnung mit seiner Arbeit zu vereinbaren [suchte], ohne den Anspruch auf Objektivität aufgeben zu müssen oder seinen politischen Idealen opfern zu wollen.“ (Janssen 2000: 17)
Vor allem bei einem programmatischen Vortrag Nationalsozialistische Wissenschaft, den er 1934 als Dozentenschaftsführer in Köln auf der ersten Veranstaltung der Kölner Dozentenschaft hielt, bringt er sein Verständnis von Wissenschaft im Nationalsozialismus zum Ausdruck. Dies basiert auf der Trennung des „äußeren Erfahrungswissens“, das durch Mathematik und Logik untermauert ist und zum anderen dem „inneren Erfahrungswissen“, das von Rasse, Volkstum, Charakter, Erziehung und allgemeiner Lebenserfahrung abhängt. (Möller 1992: 11f) Nur innerhalb des Letzteren liege die Möglichkeit der Schätzung, Wertung und der intuitiven Erfassung. Die Logik und äußere Erfahrung hingegen ließen sich von der Persönlichkeit des Wissenschaftlers lösen und für den Bereich der exakten Wissenschaften anwenden. Dabei müsse die historische Persönlichkeitsbedingtheit jeder Wissenschaft von der „wesensmäßigen“ unterschieden werden. So führt er aus:
„Eine liberale und eine nationalsozialistische Staatslehre stellen einen unversöhnlichen Gegensatz dar. Denn sie beruhen auf Grundsätzen, die der inneren Erfahrung entnommen sind. Die innere Erfahrung eines Liberalen und eines Nationalsozialisten schließen sich ihrem Inhalt nach gegenseitig aus.“ („Nationalsozialistische Wissenschaft“: Originaltext)
Ferner erläutert Stackelberg, dass die nationalsozialistische Bewegung auf einer ganz bestimmten inneren Erfahrung beruhe, die auf alle Wissenschaften durchschlagen muss, da es keine so abstrakte Wissenschaft gebe, die in keiner Beziehung zur Nation steht. Die nationalsozialistische Wissenschaft werde jedoch nicht durch die Arbeitsmethoden, der äußeren Erfahrung, und auch nicht durch ihre Ergebnisse bestimmt, sondern durch ihre Forschungsrichtung und ihre Interpretationen. In diesem Sinne gelte die volle Freiheit der Forschung, aber nicht die Freiheit zum Forschen. Diese sollte nur denjenigen gestattet sein, die dazu die erforderliche innere Haltung haben (Möller 1992: 13). Er konkretisiert dies für die Wirtschaftswissenschaft:
„Wirtschaft ist ein System von Mittel für Zwecke, die von außen her bestimmt werden sollten (z.B. vom Staat). Das System selbst ist ein logisches Gedankengebilde (ein Modell), das nicht die Wirklichkeit selbst darstellt, sondern mit Vorsicht und Selbstkritik zu Erkenntnis der Wirklichkeit verwendet werden muss (...) Grundlage für die Konstruktion solcher Bilder ist noch immer die überlieferte Wirtschaftstheorie als Darstellung der einfachen freien Wirtschaft.“ (Stackelberg 1932)
Erst in Rahmen dieses neoklassischen Modells lassen sich nach Stackelberg die erforderlichen Begriffe sinnvoll definieren, ein Modell, dass selber keinen politischen Inhalt hat. Der in diesem Zitat erwähnte Staat ist nicht im Sinne des totalitäten Staates ausgelegt, sondern als Element des Modells, welches die Mechanismen der Wirtschaft, beispielsweise der Preistheorie, setzt. Noch 1940 schriebt er im Vorwort zur Analyse der Wechselkursbildung bei vollständiger Konkurrenz: „Es ist nicht Aufgabe des Theoretiker wirtschaftspolitische Maßnahmen zu empfehlen oder zu verdammen“ (Möller 1992: 48). Obwohl Stackelberg die Wirtschaftspolitik als eine unabdingbare Verpflichtung empfand, die wirtschaftliche Verhältnisse zu erklären und verbessern vermochte, hat er sich kaum mit wirtschaftspolitischen Anwendungen befasst und insbesondere die wirtschaftspolitischen Maßnahmen des Nazi- Regimes nicht kommentiert.
Die Überzeugung, dass diese neoklassische Theorie die wissenschaftlich fundierte sei, war offenbar unabhängig von seiner nationalsozialistischen Gesinnung. Stackelberg hat sich nie kritisch gegenüber der völkischen Volkswirtschaftslehre als unwissenschaftlich ausgelassen.
Verhältnis zum NS-Regime
Ein über ihn angefertigtes Personalgutachten für die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Berliner Universität vermerkt, „daß er zwar als politisch unbedingt zuverlässig bekannt ist“, dass jedoch seine Forschungshaltung nicht mit seiner nationalsozialistischen Haltung übereinstimmt (Müller 1965: 35). Stackelberg wurde offensichtlich aufgrund seiner Parteitreue Forschungsfreiheit eingeräumt, wenn dies auch dem Primat der Politik widersprach.
Für Stackelberg bot die Parteimitgliedschaft nicht nur Schutz, sondern auch Chancen für die Durchsetzung eigener Aktivitäten. So nutzte er auch seine Verbindungen, um nach dem deutschen Einmarsch in Österreich, entgegen dem Willen der Nationalsozialisten, österreichischen Fachkollegen zu helfen. (Möller 1992: 22) Er hat auch regimekritischen Freunden wie von Dietze oder H. Peters geholfen und dem Juden Arnold Horwitz zur Promotion verholfen (Möller 1992: 22). Nach Krause konnte „Stackelberg [...] durch sein politisches Engagement mehr Nachsicht erwarten als andere“ (1969:151).
In keiner der drei NS-Organisationen in denen Stackelberg war (der NSDAP, der SS und dem NS-Dozentenbund) zeigte er beachtliches Engagement. Er bekleidete 1932 das Amt des Kulturwartes in seiner Ortsgruppe und in der SS stieg er zum Scharführer, dem zweitniedrigsten Offiziersrang, auf. Stackelberg entwickelte laut seinem Assistenten Moeller aufgrund der Kirchenpolitik der NS und seines protestantischen Glaubens einen inneren Konflikt, der zu einer gewissen Distanz zum NS-Regime führte. Er wurde wegen seiner kirchlichen Heirat mit Elisabeth Gräfin von Kanitz angefeindet und hat daraufhin zweimal vergeblich beantragt aus der SS auszuscheiden. Stackelberg war auch Mitglied der Baltischen Bruderschaft, eine evangelische Laienbruderschaft, welche 22. November 1936 unter direkter Mitwirkung von Heinrich Himmler zwangsaufgelöst wurde.
So distanzierte sich Stackelberg immer weiter vom Nazi-Regime, bestärkt durch seine enge Verbindung und Zusammenarbeit mit Jens Jessen. Mit diesem arbeitete Stackelberg Anfang 1939 in der „Arbeitsgemeinschaft Volkswirtschaftslehre“ zusammen. Die Distanzierung Stackelbergs vom Nationalsozialismus, vor allem unter Jessens Einfluss, wird durch ein internes Universitätsgutachten deutlich:
„Hier in Berlin hat Stackelberg politisch völlig versagt, im Gegenteil wurde er allgemein als ein Hemmnis bei der Durchführung einer klaren Nationalsozialistischen Hochschulpolitik empfunden. Seinerseits hat er auch nicht die geringsten Versuche eines aktiven politischen Einsatzes unternommen. Es scheint vielmehr typisch für seine Instinktlosigkeit in politischen Fragen, dass er sich ausgerechnet an den Rockschöpfen des Professor Jessen nach Berlin holen ließ.“ (Bundesarchiv, NS 15/239)
Stackelberg war nicht gegen das Regime, jedoch aus Überzeugung die Missachtung des Regimes in Kauf nahm, insofern sie an den Toren der Wissenschaft ihre natürlichen Grenzen findet. 1941 folgte er einem Ruf an die Universität Bonn. Während des Krieges war er im Verwaltungsrat im Referat Wissenschaften des OKW und als Dolmetscher an der Ostfront tätig. Im Auftrag des Reichserziehungsministeriums ging er als Gastprofessor 1943 nach Madrid, wo 1946 an Lymphdrüsenkrebs starb.
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