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1933-1945: Nationalsozialismus

Emigration

Mehrere Gründe führten zur Emigration von Wirtschaftswissenschaftlern während des Nationalsozialismus. Der entscheidendste Faktor war das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933. Es waren vor allem jüdische, sozialdemokratische, sozialistische und liberale Wissenschaftler, die von diesem Gesetz betroffen waren. In Berlin mussten 29 zu den Wirtschaftswissenschaftlern zählende Personen ihre Tätigkeiten an der Universität, der Handelshochschule oder den damit verbundenen Instituten aufgeben. Zu der misslichen Lage arbeitslos zu sein, kam auch die bedrohliche Alltagssituation für „Reichsfeinde“. Die Flucht ins Exil war für viele ein existenziell notwendiger Schritt, um das eigene Leben zu sichern.

Neben diesen Push Faktoren gab es auch Pull Faktoren. Vor allem in England und den USA entstanden Hilfskomitees, welche die deutschen Emigranten finanziell unterstützten und Arbeit vermittelten (wie der Londoner Academic Assistance Council AAC oder das Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars). Des Weiteren gab es eine Reihe von Studienstiftungen und Wissenschaftsfonds, die schon vor 1933 Stipendien an ausgewählte ausländische Studenten und Wissenschaftler vergaben, und so erleichterten, im Ausland Fuß zu fassen, und die wissenschaftliche Karriere fortzusetzen. Als einflussreichste dieser Stiftungen gilt die Rockefeller Stiftung in den USA. Hilfreich war auch, dass deutsche Wissenschaftler in den USA ein hohes Ansehen hatten. Viele amerikanische Universitäten wurden nach deutschen Vorbildern gegründet und ein beachtlicher Teil der Amerikaner hatte ursprünglich deutsche Wurzeln.

Über die tatsächliche Anzahl der emigrierten Wirtschaftswissenschaftler aus Berlin bestehen unterschiedliche Angaben. Von allen, die eine Verbindung zur Universität Berlin, bzw. zur Handelshochschule Berlin hatten, auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften geforscht und gelehrt haben, und aufgrund der unter den Nationalsozialisten auferlegten Zwänge und Einschränkungen der Wissenschaft Deutschland verlassen haben, emigrierten 20 ins Ausland. Die Mehrheit der Exilanten ging entweder in die USA oder nach England. (Hagemann 1999: xxiv) Von den 221 aus ganz Deutschland geflohenen Wirtschaftswissenschaftlern gingen mindestens 131 in die USA, sowie 35 nach England. Der Anteil der Wissenschaftler, die in die direkten Nachbarstaaten auswanderten war hingegen gering. Die Integration der emigrierten Berliner Ökonomen verlief in den meisten Fällen schnell und unkompliziert. Von den 20 ausgewanderten Personen konnten immerhin 16 ihre Arbeit weitgehend ungehindert im Exil fortsetzten. So waren Berliner Ökonomen grundlegend am „Export“ verschiedener wirtschaftswissenschaftlicher Fachrichtungen beteiligt, die später vor allem in den USA weiterentwickelt und letztendlich auch nach Deutschland „reimporiert“ wurden.

Die USA waren das wichtigste Emigrationsland. Dort galten die nach dem Ersten Weltkrieg erlassenen restriktiven Einwanderungsgesetze nicht für Wissenschaftler. Die Rockefeller Stiftung hat üblicherweise in den ersten Jahren noch die Hälfte der Gehälter der deutschen Wissenschaftler bezahlt, sodass es für die Universitäten einfach war, die Refugee Scholars aufzunehmen. Neben Emil Lederer und Frieda Wunderlich gingen auch folgende Berliner Ökonomen in die USA: Moritz Julius Bonn, Herbert Dorn, Carl Landauer, Alfred Manes, Max Lion, Arnold Wolfers sowie der ehemalige Student Arthur Schweitzer.

Unter den Institutionen, die die Exilanten aufnahmen, ist besonders die New School For Social Reasearch in New York hervorzuheben. Diese private Universität wurde 1919 von verschiedenen politisch Linken und pazifistischen Wissenschaftlern gegründet, da ihre Arbeiten an den etablierten amerikanischen Universitäten teilweise abgelehnt und zensiert wurden. Sie versuchten die neue Universität als einen Zufluchtsort für alle Wissenschaftler auch abseits des Mainstreams zu schaffen. Die New School pflegte dabei von Anfang an gute Kontakte nach Europa. Da es selbst noch im Amerika der dreißiger Jahre für jüdische Ökonomen keine Plätze an den großen Universitäten wie Harvard, Brown oder Yale gab, wurde die relativ kleine New School zum Sammelbecken vieler emigrierter deutscher Wissenschaftler. Bereits im Oktober 1933 wurde die ausschließlich aus deutschen Exilwissenschaftlern bestehende University in Exile als Fakultät der New School gegründet. Die Berliner Ökonomen Emil Lederer und Frieda Wunderlich stellten die ersten beiden Dekane dieser Fakultät. Später arbeiteten insgesamt ca. 180 Emigranten an dieser Fakultät.

Die Kenntnisse der mit Staatseingriffen vertrauten deutschen Ökonomen waren in den USA zu Zeiten des New Deals von Präsident Roosevelt sehr begehrt. Lederer konnte mit seiner Technologietheorie „den vorrangig konjunkturell argumentierenden keynesianischen Ansatz um wachstums- und strukturtheoretische Variablen“ erweitern und entwickelte sich schnell zum Pionier der Planungstheorie (Hagemann 1999: xxvix, Hagemann 2009). Lederer und Wunderlich traten als engagierte New Dealer in Erscheinung, so dass die New School sich rasch „zum wichtigsten Außenposten des New Deal 'brain trusts'“ entwickelte (Hagemann 1999: xxvii). Während des zweiten Weltkrieges waren sie und andere emigrierte Ökonomen auch als Berater bezüglich der Umstellung auf eine Kriegswirtschaft gefragt. Wunderlich beschäftigte sich mit Allokationsproblemen in einer Kriegswirtschaft (Hagemann 1999: 761).

Auch der erst nach Dänemark ausgewanderte und dann 1941 an die New School gewechselte Julius Hirsch war ein Berliner Wirtschaftswissenschaftler. Durch seine Erfahrungen, die er als betriebswirtschaftlicher Berater der deutschen Reichsregierung, sowie als Vertreter Deutschlands auf internationalen Konferenzen gesammelt hatte, wurde er schon bald zu einem gefragten Ökonomen. Er wurde kurz nach seiner Ankunft in den USA zum Chief Consulant im Office of Price Administration in Washington ernannt (Hagemann 1999: 273). Er untersuchte die Folgen von Rationalisierung und Preiskontrollen (Hirsch 1943) Nach dem Krieg untersuchte er die Inflation in den USA und betonte Produktivitätsveränderungen als Ursache der Inflation (Hagemann 1999: 273).

Neben der New School konnten Ökonomen aus Berlin auch an anderen Institutionen ihre Analysen in Bereichen wie Wachstums-und Konjunkturtheorie oder Finanzwirtschaft weiterentwickeln. Zu nennen ist hier unter anderen Arthur Schweitzer mit seinen Arbeiten zur Konjunkturtheorie an der University of Wyoming (Schweitzer 1941). Ein anderer Vorreiter auf seinem Gebiet war Alfred Manes, der schon vor seiner Emigration wichtige Arbeiten zur Versicherungswirtschaft schrieb und diese später in den USA weiterführte, wo er mehrere Grundlagen der Versicherungsmathematik erarbeitete (Manes 1938).

Ein kleinerer Teil der Berliner Ökonomen emigrierte nach England. Hier waren sie vor allem an der London School of Economics und der Oxford University heimisch geworden. Besonders die Entwicklungsökonomin Charlotte Leubuscher, der ehemalige Rektor der Handelshochschule Moritz Julius Bonn, sowie der spätere Dekan der Philosophischen Fakultät der Humboldt Universität, Arthur Liebert waren bedeutende Berliner im Englischen Exil. Große Bedeutung erlangte vor allem Charlotte Leubuscher, die nach ihrer Emigration erst an verschiedenen Universitäten wie Cambridge und Oxford vortrug, ehe sie an die London School of Economics kam. Hier führte sie ihre Arbeiten zu den englischen Kolonien fort und wurde so eine der ersten Wissenschaftlerinnen, die sich vornehmlich mit entwicklungsökonomischen Theorien befasste (Leubuscher 1931). Gleichzeitig machte sie sich gegen den aufkommenden Interventionismus stark und geriet in Opposition zur keynesianischen Lehre.

Mit Hans Wilbrandt und Fritz Baade gingen zwei Berliner Agrarökonomen in die Türkei, wo sie neben der universitären Arbeit auch als Berater der Regierung tätig waren. Die junge türkische Nation durchlebte zu dieser Zeit einen starken Modernisierungsprozess, der vor allem durch Staatsgründer Atatürk vorangetrieben wurde. Als erstes wurde Hans Wilbrandt 1934 von der türkischen Regierung als Berater für Agrarwirtschaft ans Wirtschaftsministerium in Ankara berufen (Hagemann 1999: 745). Ein Jahr später folgte ihm sein ehemaliger Kollege Fritz Baade nach. In dieser Zeit hatten beide maßgeblichen Einfluss auf die „Gestaltung des Landwirtschaftlichen Organisationswesens, der Marktforschung und Marktregulierung“ (Hagemann 1999: 745). Zu Wilbrandts wichtigsten Leistungen gehörte hierbei der Aufbau und die Organisation des Agrarkredit- und Genossenschaftssektors, während Baade vornehmlich für den Export von Landwirtschaftsgütern zuständig war. Wilbrandt spielte zusätzlich eine wichtige politische Rolle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, da er als Kontaktmann der alliierten Geheimdienste zu deutschen Widerstandsgruppen auftrat.

Nach dem Krieg kamen die wenigsten Exilanten zurück an ihre alte Wirkungsstätte. Nur Fritz Baade, Hans Wilbrandt, Erich Kaufmann, Arthur Liebert und Jürgen Kuczynski kehrten ganz nach Deutschland zurück. Die Mehrheit blieb in der neuen Heimat, wo sie längst vom Exilant zum Emigrant geworden waren. Die meisten konnten ihre Karrieren im Ausland fortsetzten und sich dauerhaft im den wichtigen Kreisen der dortigen Wirtschaftswissenschaft etablieren. Trotzdem blieben alle bis an ihr Lebensende mit Deutschland verbunden. So hat sich jeder der Berliner Ökonomen in mindestens einer Veröffentlichung auch nach dem Krieg mit Deutschland beschäftigt. Oftmals beschäftigen sie sich dann mit Problemen im Nachkriegsdeutschland und den wirtschaftlichen Ursachen der Machtergreifung der Nazis. Frieda Wunderlich und Arthur Schweitzer veröffentlichten grundlegende Arbeiten zu diesen Fragen.

Die Umstände des Exils und die Emigrationserfahrung haben die Ökonomen unterschiedlich beeinflusst. Vor allem die ältere Generation befasste sich ausschließlich mit Themen, die schon Bestandteil ihrer früheren Forschung waren. So ist außer bei Emil Lederer nicht zu erkennen, dass sich durch die Emigration ihre Ansichten zu wirtschaftlichen Problemen verändert haben. Im Gegensatz dazu steht die jüngere Generation, allen voran Arthur Schweitzer oder auch Frieda Wunderlich, die in ihren Arbeiten die geistige Prägung des jeweiligen Gastlands erkennen ließen (Schweitzer 1970).

Quelle: Denkmalschutzamt Hamburg Bildarchiv